Tribüne
«Der Zweck heiligt nicht alle Mittel»

Der Urner alt Ständerat Hansheiri Inderkum äussert sich zum Thema Neutralität der Schweiz.

Hansheiri Inderkum, alt Ständerat
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Der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine ist ohne Zweifel ein das Völkerrecht in krasser Weise verletzender Akt. Dennoch darf er nicht Anlass dazu sein, dass die Schweiz mit Schnellschüssen unter der Devise «Der Zweck heiligt (alle) Mittel» grundlegende staatsrechtliche und staatspolitische Prinzipien über Bord wirft. Dies gilt auch mit Bezug auf unsere Neutralität.

Hansheiri Inderkum.

Hansheiri Inderkum.

Bild: Valentin Luthiger/PD

Die Bundesverfassung geht bekanntlich davon aus, dass die Schweiz dauerhaft neutral ist, dass die Neutralität eine Maxime der Aussenpolitik bildet und dass für die Be­folgung dieses Ziels sowohl der Bundesrat als auch die Bundesversammlung zuständig sind. Die Bundesverfassung definiert somit die Neutralität inhaltlich nicht. Die dauernde (und bewaffnete) Neutrali­tät der Schweiz wurde 1815 am Wiener Kongress von den Mächten als im Interesse der Staatengemeinschaft liegend anerkannt. Sie hat somit einen spezifischen inter­nationalen Bezug. Zu differenzieren ist zwischen dem Neutralitätsrecht und der Neutralitätspolitik. Letztere verpflichtet einen dauerhaft neutralen Staat, sich so zu verhalten, dass er in einem Krieg zwischen Drittstaaten das Neutralitätsrecht strikte beachten kann. Hingegen besteht keine Pflicht zu einer ideologischen Neutrali­tät.

Ein neutraler Staat hat mithin das Neutralitätsrecht zu beachten. Dieses ist Völker­recht. Zu den völkerrechtlichen Rechtsquellen gehören die Staatsverträge, das völ­kerrechtliche Gewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Haupt­sächliche staatsvertragliche Rechtsgrundlage bilden die beiden Haager Abkommen von 1907 über den Landkrieg und über den Seekrieg. Diese schreiben vor, dass ein neutraler Staat sich nicht an Kriegen beteiligen und damit auch keine Söldner entsenden darf, die kriegführenden Parteien gleich behandelt, was insbesondere auch für den Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial gilt, nicht einem Militärbündnis (zum Beispiel Nato) beitreten darf und sein Territorium von fremden Truppen freihalten muss.

Dieses – geschriebene – Neutralitätsrecht bildet auch heute noch den eigentlichen Kern der Verpflichtungen eines neutralen Staates. Dies gilt namentlich auch für die Gleichbehandlung der Kriegsparteien bezüglich Waffenlieferungen.

Mit Bezug auf den Ukraine-Krieg bedeutet das für die Schweiz, dass diese die Ukraine nicht mit Waffen, Munition und weiterem Kriegsgerät unterstützen darf. Logischerweise darf dies auch nicht auf indirektem Weg geschehen, es sei denn, die Schweiz würde auch die andere Kriegspartei, mithin Russland, gleich behandeln, was wohl kaum in der Absicht und im Interesse der Schweiz liegt. Diese neutralitäts­rechtliche und damit völkerrechtliche Vorgabe wurde im Kriegsmaterialgesetz durch innerstaatliches Recht konkretisiert. Demnach dürfen an ausländische Staaten gelie­ferte Waffen nicht ohne Einwilligung des Bundesrates weitergegeben werden.

Diese Regelung ist zwar vom Völkerrecht nicht ausdrücklich geboten, sie entspricht aber durchaus dem Sinn des Neutralitätsrechts und sollte nun nicht in einer Hauruckübung vorschnell über Bord geworfen werden, weil nicht in jedem neutralitätsrechtlich relevanten Konflikt klar auszumachen ist, wer der Aggressor ist. Dies wiederum mag, wie auch gerade jetzt im Ukrainekrieg, bei welchem Russland als Angreifer unmissverständlich feststeht, zur Frage führen, ob es denn wirklich Sinn des Neutralitätsrechts sein kann, die Ukraine in ihrer (völkerrechtlich) legitimen Verteidigung zu behindern und Russland in seinem (völkerrechtswidrigen) Angriffskrieg zu begünstigen.

Wie jedoch der Zürcher Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann vor kurzem in der NZZ ausgeführt hat, ist diese Problematik nun einmal in der Struktur des Neutralitätsrechts angelegt und «war dies immer schon ein moralisches und oft auch politisches Problem für den Neutralen», wenn eine Partei «eindeutig der Aggressor» ist. Wer das nicht in Kauf nehmen will, dem bleibt als Alternative lediglich noch eine fallweise Neutralität oder deren gänzliche Aufgabe. Ob dies im längerfristigen Interesse der Schweiz liegt, darf mit Fug bezweifelt werden.