VINYL: Eine rauschende Liebe flammt neu auf

Weswegen ein Pferd kaufen, wenn ein moderner Kleinwagen günstiger zu haben ist? Warum einen Plattenspieler besorgen, wenn das Internet die Lieblingssongs gratis ausspuckt? Trotzdem gibt es Leute mit Pferden. Und solche mit Plattenspielern.

Cyrill Studer Korevaar
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Ein Altar für das «schwarze Gold»: Unser Autor hat die Vorzüge der Vinylplatten wiederentdeckt – wie jenen von Pink Floyd. (Bild: Nadia Schärli (Luzern, 15. Februar 2018))

Ein Altar für das «schwarze Gold»: Unser Autor hat die Vorzüge der Vinylplatten wiederentdeckt – wie jenen von Pink Floyd. (Bild: Nadia Schärli (Luzern, 15. Februar 2018))

Es begann vor 14 Monaten, als ich den Silvesterabend bei einem Freund am Plattenspieler verbrachte und mir dieser nach dem Frühstück sämtliche Pink-Floyd-Alben in die Hand drückte. Dieser Jahreswechsel hatte es in sich: Manfred Mann, Genesis, Bronski Beat, Alan Parsons Projekt – ich fühlte mich im siebten Himmel und noch mehr in meine Jugendjahre zurückversetzt.

Doch weswegen braucht es altertümliche Vinylscheiben für dieses Hochgefühl? Schliesslich ist fast jeder Song gratis und in bester Qualität auf Youtube erhältlich. Ein aktueller Selbstversuch: Ich tippe «titanic one night in eagle rock» ein und gelange sofort zum perfekt aufbereiteten 7:47-Minuten-Song.

Kindheitserinnerungen aus dem «Stübli»

Warum aber setzte mein Herz für einen Schlag aus, als ich letzthin an einer Plattenbörse auf einmal diese LP in der Hand hielt? Ganz einfach: Das Cover – rot-schwarzer Adler mit stechend gelbem Auge – versetzte mich unmittelbar in meine frühesten Kindheits- und Musikerinnerungen zurück. Das Album lag vor 40 Jahren im «Stübli» des Bauernhauses meiner Grosseltern in Buochs, liebevoll von meinen Tanten vergessen, welche dort als Teenager mit Freunden abhängten und coole Musik hörten. Wir drei Brüder kannten jeden Winkel des Bauernhofes, aber die besten Stunden verbrachten wir vor dem uralten Plattenspieler mit Massen einer Küchenkommode. Wir liessen den Kultsong immer wieder drehen und wackelten vom Sirenengeheul zu Beginn bis zum apokalyptischen Finale mit.

Längst habe ich meine schwerste Sünde wettgemacht, dass ich vor zehn Jahren mein gesamtes Vinyl ins Brockenhaus brachte – weswegen aufbewahren im Zeitalter der Digitalisierung? Meine Frau war weitsichtiger und verteidigte eisern ihre Sammlung im notorisch überfüllten Keller. Einiges stöberte ich inzwischen wieder auf: Mike Oldfield, Iron Maiden, Black Sabbath. Weiteres kam dazu: Hair, Jesus Christ Superstar, Prince. Seither ist der Kampf um die Musikhoheit im Wohnzimmer um einen Akteur reicher: Neben Hip-Hop (ältere Tochter), Radio Pilatus (jüngere Tochter), Radio 3fach (ich) und «ist mir egal» (meine Frau) nun also auch knisternde Rillenträger, welche erst noch alle 20 Minuten gedreht werden müssen. Wieso nur tue ich mir das an?

Heute tippt man ein paar Buchstaben auf dem Smartphone ein, und schon hört man den Wunschsong. Als «Vinyler» habe ich damals wochenlang für eine LP gespart, umso mehr verschlang ich neben der Musik das Cover, die eingelegten Booklets und las die Texte auch ohne Englischkenntnisse mit. Musik ist neben Klang genauso Ästhetik. Diese Erkenntnis wird auch nach Jahrzehnten wieder unmittelbar zum Leben erweckt und dauerhaft ins Wohnzimmer integriert. Dort übernehmen die Alben nun täglich eine wichtige Funktion: Am Geburtstag meiner Frau schaffen es die Dire-Straits- und U2-Scheiben meiner Partnerin in die vordersten Reihen des «Altars», auf den Halbmarathon hin motiviere ich mich mit den archaischen Manowar-Covers, vor dem nächsten Roger-Waters-Konzert sind selbstverständlich die Pink-Floyd-Alben dran, und wenn ich einen Bruder zu Besuch habe – klar: Titanic «One Night in Eagle Rock».

Veränderter Musikkonsum

Der zweite Grund: Ich höre heute meist aktuelle Musik. Nie würde ich «supertramp school» auf Youtube eingeben oder die CD auf dem Flohmarkt kaufen. Ganz anders, wenn ich dem Song auf Vinyl begegne: Das «schwarze Gold» in den Händen halten, das Auflegen der Nadel auf der verletzlichen Oberfläche, das hypnotische Drehen und dann die längst vergessenen Klänge mit dem charakteristischen Knistern – dank Vinyl entdecke ich ein zweites Mal die Sechziger-, Siebziger- und Achtziger-Bands.

Heute verkauft der Luzerner Platzhirsch Old Town Store nach 25 Jahren wieder mehr LPs als CDs. Zeichen für ein weitgehendes Revival? Kaum. Spotify und Co. sind zu dominant. Und in Zukunft? Musik aus dem Internet braucht dauerstromversorgte Server. CDs geben irgendwann den Löffel ab. Und LPs? Diese gelten korrekt gelagert als unverwüstlich – Vielleicht steht uns die zweite grosse Vinylepoche in ferner Zukunft noch bevor?

Wie auch immer, ich beginne meine neue alte Begeisterung erst auszuleben. Mein aktuellster Fang: Das 1974-Soloalbum von Syd Barrett, dem kreativsten Kopf der frühen Pink-Floyd-Werke. Musikalisch leider wegen zu viel LSD-Konsum eine Katastrophe. Jedoch, was spielt das für eine Rolle? Hauptsache, ich besitze ein Syd-Barrett-Album!

Apropos: Ich besitze zwar kein Auto, überlege mir diese Tage aber, ein Pferd anzuschaffen.

Cyrill Studer Korevaar

redaktion@zentralschweizamsonntag.ch