Streaming-TV
Verflixtes Netflix, warum bist du so langweilig geworden?

Die einst als TV-Revolution gefeierte Plattform gleicht inzwischen immer mehr dem, was sie zu bekämpfen versprach: dem Kabelfernsehen. Das hat nicht nur mit wachsender Konkurrenz, sondern auch mit fatalen Entscheidungen der Macher zu tun.

Gregory Remez
Gregory Remez
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Schauen Sie noch? Alle, die sich beim Seriengucken gerne mal vergessen, kennen die wohlgemeinte Suggestivfrage, die Netflix einblendet, wenn die Fernbedienung länger unbedient bleibt. Früher passierte mir das oft. Öfter als ich hier zugeben möchte. In letzter Zeit aber kommt es kaum noch vor. Das liegt nicht daran, dass ich vernünftiger geworden wäre – dagegen spricht meine Handy-Bildschirmzeit. Vielmehr gibt es kaum noch Sehenswertes auf der einst als TV-Revolution gefeierten Plattform. Trotz ständig wachsender Videothek.

Auf RTL-Niveau angekommen: Entgegen früherer Versprechen produziert Netflix inzwischen auch seichte Reality-Unterhaltungsformate wie «Too Hot to Handle» (Ausschnitt aus der jüngst erschienenen 4. Staffel).

Auf RTL-Niveau angekommen: Entgegen früherer Versprechen produziert Netflix inzwischen auch seichte Reality-Unterhaltungsformate wie «Too Hot to Handle» (Ausschnitt aus der jüngst erschienenen 4. Staffel).

Screenshot: Netflix

Öfter beschleicht mich beim Durchstöbern der vielen, zum Teil urkomisch widersinnigen Netflix-Kategorien jener Eindruck, der mich einst dazu veranlasste, dem linearen Kabelfernsehen zu entsagen: über 1000 Sender und doch nichts zu sehen. Offenbar geht's nicht nur mir so. Fast 1,2 Millionen Nutzerinnen und Nutzer hat der Dienst in der ersten Jahreshälfte verloren. Zuletzt ging es bei den Abozahlen zwar wieder leicht aufwärts, von alten Wachstumsraten ist die Firma mit Sitz im kalifornischen Los Gatos aber meilenweit entfernt.

Auch von Freunden und Bekannten höre ich dieser Tage vermehrt, dass sie ihr Abo kündigen wollen. Ich werde meines im neuen Jahr kaum verlängern. Zu Beginn der Pandemie, als die Kinos geschlossen und wir kollektiv zum Sofasport verdammt waren, sah es ganz danach aus, als würde sich der Streaming-Siegeszug noch schneller als gedacht vollführen. Und als würde sich die Prophezeiung einer neuen TV-Zukunft, in der einstige Kino-Blockbuster zuerst in die Stuben gestreamt werden, erfüllen.

Gescheiterte TV-Revolution

Inzwischen gilt jedoch die insbesondere von Netflix vorangetriebene «Streaming first»-Strategie als gescheitert. Sie ist schlicht weniger lukrativ als das gute alte TV-Geschäftsmodell, bei dem sich Filme und Serien zigfach verkaufen und vermarkten liessen. Im wachsenden Wettbewerb um Nutzerinnen und Nutzer infolge des Markteintritts von Amazon, Sky, Disney und Apple musste Netflix zuletzt ausserdem herbe Rückschläge hinnehmen: Der Aktienkurs brach 2022 massiv ein, Hunderte Angestellte wurden entlassen und entgegen vorheriger Versprechen führte der Dienst erstmals ein Abo mit Werbeunterbrechungen ein.

Das US-Techportal «The Verge» verkündete daraufhin das «Ende des goldenen Zeitalters» des Streaming-TV nach Netflix-Rezept. Wie konnte das passieren? Wie konnte die Plattform, die vor kurzem noch Rekord an Rekord reihte und sogar die eigenen Erwartungen übertraf, derart schnell seinen Nimbus verlieren? Die Gründe dafür sind vielfältig und haben nicht nur mit den veränderten Umständen innerhalb der Branche, sondern auch mit einem fatalen Richtungswechsel der Netflix-Verantwortlichen zu tun.

Um sich vom TV-Einheitsbrei abzuheben, setzten die Netflix-Macher zunächst ganz bewusst auf kuratierte Inhalte und legten mit Topproduktionen wie «House of Cards» oder «Orange Is the New Black» erst den Grundstein für die neue Streaming-Ära. Wegen des zunehmenden Marktdruckes rückten sie in den letzten Jahren aber vom Premium-Ansatz ab und nahmen immer mehr sekundäre, generische Inhalte in die Videothek, um ein möglichst breites Publikum anzuziehen. Inzwischen ist man im Pfuhl von seichten Reality, Quizshows, Seifenopern und mittelmässigen Remakes angekommen. Alles billig in der Produktion. Hauptsache, das grosse rote «N» ist drauf. Und so gleicht die Plattform heute immer mehr dem, was sie einst zu bekämpfen versprach: dem Kabelfernsehen. RTL statt HBO. Die TV-Revolution ist gescheitert.

Es weht ein rauer Wind

Natürlich gibt es nach wie vor die eine oder andere Perle – die gerade erschienene Krimi-Fortsetzung «Glass Onion: A Knives Out Mystery» ist so eine ersehnte Ausnahme –, doch sind diese ganz schön rar geworden. Wenig hilfreich ist in dieser Hinsicht, dass sich die Netflix-Investoren in Zeiten von Inflation, steigenden Zinsen und sinkenden Tech-Aktien nicht mehr mit Zukunftsversprechen abspeisen lassen, sondern endlich mal Gewinne sehen wollen.

Der Mut zum kreativen Risiko, der die Plattform früher auszeichnete, nimmt so zwangsläufig ab. Aufwendige Produktionen, die sich nicht an ein Massenpublikum richten, werden seltener. Flops können sich die Macher kaum noch leisten. Denn im Gegensatz zu Apple, Amazon und Disney, für die das Streaming-Geschäft einen netten Zustupf bildet, ist der Erfolg von Netflix alleine davon abhängig, wie viele Abonnentinnen und Abonnenten auf die Plattform gelockt werden können.

Dass der Noch-Marktführer ebendiese Kunden mit regelmässigen Preissteigerungen und Schikanen wie der heuer angekündigten Begrenzung beim Teilen von Accounts zusätzlich vergrault, dürfte sich mittelfristig rächen. Es weht ein rauer Wind in Los Gatos.