Den Tankstellen in England fehlt der Treibstoff, weil Lastwagenfahrer das Land verlassen. Schweizer Transportunternehmer sehen in der britischen Versorgungskrise trotzdem Positives.
«Boris Johnson muss aufpassen, dass seine Rechnung am Ende noch aufgeht», warnt der Aargauer Transportunternehmer Hans-Jörg Bertschi, dessen gleichnamige Firma mit einem Logistikzentrum auch auf der britischen Insel tätig ist.
Seit dem Brexit begrenzt der britische Premier die Zuwanderung in Niedriglohnsektoren und hofft damit die Situation der Arbeitnehmenden zu verbessern. «Gelingt das nicht und bleibt die Versorgung prekär, könnte Johnson zum Verlierer werden», sagt Bertschi.
Er sammelt derzeit gerade seine eigenen Erfahrungen auf der Insel. Von den rund 50 Chauffeuren, die seine in Dürrenäsch bei Aarau ansässige Firma in England beschäftigt, hat in den vergangenen Tagen jeder Fünfte gekündigt. «Sie haben Jobs mit weit höheren Löhnen angenommen», erklärt er den Exodus. Den Fahrern winken Lohnsteigerungen um bis zu 30 Prozent.
In Grossbritannien fehlen derzeit rund 100'000 Lastwagenchauffeure. Die Versorgung des Landes ist in grossen Teilen nicht mehr voll gewährleistet. Tankstellen bleiben ohne Benzinnachschub geschlossen und in den Läden treffen Konsumenten teilweise leere Regale an
Bertschi muss mit finanziellen Einbussen rechnen. Auf einen baldigen Ersatz seiner abgewanderten Chauffeure kann der 63-jährige Verwaltungsratspräsident nicht hoffen. Wohl oder übel bleibt ein Teil seiner Lastwagenflotte auf der Insel vorerst stehen, obschon es mehr als genug Arbeit gäbe.
Als Mitbegründer des wirtschaftspolitischen Komitees «Autonomiesuisse», das sich gegen die Unterzeichnung des Rahmenabkommens mit der EU stark machte, hat der promovierte Ökonom dennoch gewisse Sympathien für die britische Politik. «Johnson will den Wettbewerb in den Tieflohnsektoren eingrenzen, da sind Knappheitserscheinungen bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich», sagt er. «Eine Korrektur bei den Tieflöhnen ist positiv», sagt Bertschi.
Obschon die Lastwagenchauffeure in der Schweiz mit durchschnittlich gegen 5500 Franken im Monat fast das Doppelte verdienen als im EU-Mittel, ist die Berufsgruppe auch hierzulande unter Druck geraten. «Bis vor 20 Jahren konnte sich ein Chauffeur irgendwann ein eigenes Haus kaufen, das ist heute undenkbar», sagt Bertschi.
Der Beruf hat auch aus anderen Gründen stark an Attraktivität verloren. Benjamin Giezendanner, Patron des gleichnamigen Transportunternehmens im aargauischen Rothrist, führt die gestiegene Eintrittsschwelle an. Eine Lastwagenprüfung koste heutzutage bis zu 30'000 Franken. «Der Theorieteil ist so umfassend, dass ich nicht sicher bin, diesen heute nochmals erfolgreich bestehen zu können», sagt der 39-jährige.
Auch er will in der britischen Versorgungskrise Positives sehen. «Für die Chauffeure und die Branche sind die Lohnsteigerungen auf der Insel eine gute Sache», sagt er. In dem Sektor herrsche seit Jahren ein ruinöser Lohnwettbewerb. Giezendanner beschäftigt rund 190 Fahrer, davon etwa ein Drittel in der Schweiz. Von denen stammt aber ein grosser Teil aus den Nachbarländern, namentlich aus dem Schwabenland, dem Elsass und aus Norditalien. In der EU beschäftigt Giezendanner viele «Piloten» aus osteuropäischen Staaten.
Genau diese Leute fehlen derzeit den Briten. Rumänen, Bulgaren oder Polen hatten die Versorgung auf der Insel sichergestellt, als Grossbritannien noch ein EU-Land war. Dann kam der Brexit und kurz darauf eskalierte die Corona-Krise. Viele Chauffeure verliessen das Land, aus Mangel an Arbeit. Mit der extrem raschen wirtschaftlichen Erholung fehlen sie nun an allen Ecken und Enden.
Giezendanner glaubt, dass die Lohnsteigerungen in Grossbritannien bald auf den Kontinent überschwappen könnten. Kurzfristig müssten die Briten dazu allerdings das Kontingent für Chauffeure aus Europa wieder stark ausweiten. Die 5000 Bewilligungen, für die Johnson soeben grünes Licht gegeben hat, reichen dafür kaum aus.
Giezendanner, seit 2019 für die SVP im Nationalrat, findet zwar, die Briten hätten sich auf die voraussehbaren Probleme in der Versorgung schlecht vorbereitet. Trotzdem sieht er Johnsons Politik als Beleg dafür, dass der Arbeitsmarkt mit Kontingenten gut zu steuern ist. Mit diesem Argument hatte die SVP bereits bei ihrer Kampagne für die Masseneinwanderungsinitiative die Kritiker gekontert, die im Fall einer Annahme der Initiative vor der der Kündigung der bilateralen Verträge gewarnt hatten.
Der parteilose Hans-Jörg Bertschi ist vorsichtiger. Er hat die SVP-Initiative abgelehnt und sieht die Personenfreizügigkeit mit der EU als Vorteil für die Schweiz – wenn auch nicht um jeden Preis. «Die Zuwanderung erzeugt auch Kosten, diese sollten entweder durch die Steuerleistung der eingewanderten Person oder durch dessen Arbeitgeber gedeckt sein», findet Bertschi. Die Forderung ist dem neuen britischen Modell nicht unähnlich. Den ersten Bewährungstest hat dieses aber nicht bestanden.