Der Bund will den Anteil des öffentlichen Verkehr verdoppeln. Die Branche präsentiert in einer Studie Massnahmen, um das Ziel zu erreichen. Ein Verkehrsforscher hat Zweifel, ob sie ausreichen.
Wie können mehr Menschen dazu gebracht werden, das Auto auf dem Parkplatz zu lassen und stattdessen den Bus, das Tram oder den Zug zu besteigen? Seit 14 Jahren findet die Branche des öffentlichen Verkehr keine Antwort auf diese Frage. So lange schon stagniert der Anteil des ÖV in der Schweiz. Er beträgt 13 Prozent der zurückgelegten Wege und 28 Prozent der zurückgelegten Distanzen.
Nun soll endlich wieder etwas gehen. Der Bund will den Anteil des öffentlichen Verkehrs bis 2050 verdoppeln, berichtete unlängst die «NZZ am Sonntag». Selbst die Beamten sprechen allerdings von einem ambitionierten Ziel. Schützenhilfe erhalten sie nun vom Verband öffentlicher Verkehr (VöV). In ihm sind die Unternehmen der Branche von der SBB und Postauto bis hin zu kleinen Seilbahnen zusammengeschlossen.
Der VöV hat das Genfer Ingenieursbüro Citec Ingénieurs Conseils damit beauftragt, Massnahmen aufzuzeigen, mit denen der Anteil des öffentlichen Verkehr gesteigert werden kann. Die Forscher haben 38 Massnahmen identifiziert. Die Studie dazu wurde am Freitag vorgestellt. Würden nur schon die wichtigsten dieser Massnahmen umgesetzt, führe das zu einem Anstieg der Fahrten mit dem ÖV um über 50 Prozent bis 2050. Als Referenzjahr gilt das Jahr 2015. Mittel- bis langfristig soll der Anteil des ÖV an den zurückgelegten Distanzen über 40 Prozent betragen.
«Ein höherer Anteil des ÖV am Gesamtverkehrsaufkommen ist zur Erreichung der Klimaziele Teil der Lösung», wird VöV-Direktor Ueli Stückelberger im Vorwort zitiert. Im Hinblick auf die Erreichung des Netto-Null-Ziels komme dem Verkehrssektor, der für 40 Prozent der ausgestossenen CO2-Emissionen in der Schweiz verantwortlich ist, «eine wesentliche Bedeutung» zu – und der ÖV sei den Autos «weit überlegen».
Thomas Sauter-Servaes leitet den Studiengang Verkehrssysteme an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). «Es ist der richtige Ansatz, sich das konkrete Verlagerungsziel zu setzen und nach Wegen zu suchen, es zu erreichen. Dadurch kommt der notwendige Druck auf den Kessel», sagt er.
Die Studie sei aber zu stark aus der klassischen ÖV-Sicht gedacht. Das Auto entwickle sich aktuell zu einem «Smartphone auf Rädern». Hinzu komme, dass Elektroautos künftig Teil des persönlichen Energiemanagements werden, etwa mit sogenannten «Vehicle to Grid»-Konzepten, bei denen Strom aus den Akkus zurück ins Stromnetz gespiesen wird.
Daraus ergäben sich für das Auto neue Geschäftsmodelle, Statussymbole und positive Erzählungen. «Das wird komplett vernachlässigt», sagt Sauter-Servaes. «Wie will man einen wettbewerbsfähigen ÖV kreieren, ohne die Trends und Dynamiken des mächtigen Konkurrenten Auto zu beachten?»
Es brauche viele Massnahmen, um eine neue Mobilitätskultur zu etablieren. «Es geht um eine tiefgreifende Umgestaltung unseres Verkehrssystem, das jahrzehntelang autozentriert gedacht und zementiert wurde. Das werden wir nicht erreichen, indem wir einfach nur mehr von dem bestehenden ÖV-Angebot offerieren. Es braucht einen neuen ÖV, der stärker vom heutigen Autofahrer gedacht wird», sagt Sauter-Servaes. «Ihn wollen wir zum Umsteigen verführen.»
Wer ein eigenes Auto besitze, sei wegen der einfachen Zugänglichkeit und den gefühlt tiefen Kosten sehr schnell blind für andere Optionen. «Es muss weniger attraktiv werden, ein Auto zu besitzen, und es muss Mobilitätsangebote geben, die das eigene Auto emotional und funktional tatsächlich ersetzen können.» Es sei nötig, Abo-Pakete zu entwickeln, die Zeitbudgets für Leihvelo-, E-Trotinett- und Carsharing-Systeme enthielten. Die richtige Mischung zu finden, werde «die grosse Kunst» sein und in der Stadt anders aussehen als auf dem Land. Mit «Yumuv» und «SBB Green Class» gehe es schon erste Angebote, die in die richtige Richtung gehen. «Diesen Weg müssen wir weitergehen.»