Das Weltcupfinale in Lenzerheide verspricht Hochspannung. Bei den Frauen steht das Duell zwischen Lara Gut-Behrami und Petra Vlhova im Zentrum. Die Slowakin will ihren ersten Gesamtweltcup gewinnen. Für sich, für die Familie, für die Slowakei.
Vor gut drei Wochen hat Petra Vlhova in Cortina ihre sechste WM-Medaille gewonnen, mit 25 Jahren. Daraufhin machte ein Zitat ihres Vaters Igor die Runde. Er sagte: «WM-Silber im Slalom ist schön. Aber entscheidend ist der Gesamtweltcup. Wenn wir ihn nicht gewinnen, herrscht in der Slowakei Chaos.» Der Gesamtweltcup ist in dieser Geschichte mehr als nur eine grosse Kristallkugel. Er könnte eine Familie und offenbar ein ganzes Land erlösen.
Die Familie besteht aus Petra, Vater Igor, Mutter Zuzana und dem älteren Bruder Boris. Die Skikarriere ist ein Familienprojekt. Vlhova sagte einst: «Ich habe das Glück, dass meine Eltern und mein Bruder ihre Träume für meine geopfert haben.» Aufgewachsen ist Vlhova in Liptovsky Mikulas, einer Stadt in der Zentralslowakei. Gut 20 Fahrminuten von Jasna entfernt, wo vor einer Woche der Weltcup zu Gast war. Vlhova kommt im Juni 1995 zur Welt. Sie wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Die Eltern stecken jeden Euro in die Karriere des Kindes. Vier Monate nach ihrem ersten FIS-Rennen gelingt ihr der erste Sieg. Die Karriere verläuft so, wie sich das alle wünschen. Als die olympischen Jugend-Winterspiele erstmals ausgetragen werden, fährt sie zu Slalom-Gold.
Vor vier Jahren kam Livio Magoni hinzu, er leitet seither ihr Privatteam, zu dem sieben Personen gehören. Der Italiener ist bekannt im Weltcup. Er betreute Tina Maze in der verrückten Saison 2012/2013, als die Slowenin 2414 Weltcup-Punkte holte, es ist bis heute eine Rekordmarke. Magoni ist ein Besessener. Als er für den italienischen Verband arbeitete, gab es Top-Athletinnen, die sich gegen ihn wendeten, weil seine Trainings zu hart gewesen seien. Als er beim letzten Mal grössere Medienpräsenz erlangte, wurde er beschuldigt, die Trainings von Mikaela Shiffrin auszuspionieren, weil er ihre Einheiten filmen liess. Regelwidrig ist das aber nicht.
Magonis Optimierungswut und Vlhovas Trainingsfleiss gehen eine symbiotische Beziehung ein. Die beiden sind wie Wissenschaftler und Roboter, wie Mechaniker und Rennwagen. Einmal sagte er, er kenne seine Athletin fast nur im Trainingsoutfit, entweder trainiere, esse oder schlafe sie, sonst gebe es nichts. In dieser Saison spulte sie bisher ein intensives Programm ab. 29 Rennen hat sie im Weltcup bestritten, das sind acht mehr als ihre Verfolgerin in der Gesamtwertung, Lara Gut-Behrami. Magoni sagte vor den Rennen in Jasna, bei Vlhova mache sich eine mentale Müdigkeit bemerkbar. 2, 1, 1, 8 – das waren ihre Klassierungen seit dieser Aussage. Es braucht etwas Fantasie, um Müdigkeit in diesen Zahlen zu erkennen.
Am Freitag überholte Vlhova mit ihrem Slalom-Sieg in Are Gut-Behrami in der Gesamtwertung. Am Samstag verpasste sie es, den Vorsprung weiter auszubauen. Nur dank einer akrobatischen Einlage blieb sie überhaupt im Rennen. Im zweiten Durchgang arbeitete sie sich von Rang 27 auf Rang 8 vor. Vor dem Weltcup-Finale in der Lenzerheide, das ab Mittwoch stattfindet, führt sie mit 96 Punkten Vorsprung auf Gut-Behrami. Die Chancen stehen gut für die Slowakin, zumal die Abfahrt wegen den schlechten Wetterprognosen auf dem Spiel steht und dort die Schweizerin Punkte aufholen könnte.
Der Sieg in der Gesamtwertung ist zum Greifen nah. Er wird die Slowakei kaum vor dem Chaos bewahren. Das Land kämpft mit vollen Spitälern, Intensivpatienten werden etwa nach Deutschland verlegt. Es gibt politische Stimmen, die eine Regierungsumbildung fordern. Eine Kristallkugel wäre höchstens Balsam. Schaden würde es der Volksseele nicht.