Olympische Spiele
Um 09.15 Uhr stockt der Schweiz der Atem: Wie Jolanda Neff nach Lungenkollaps und Milzriss zu Olympia-Gold fährt

Gold, Silber und Bronze für die Schweiz im Mountainbike-Rennen der Frauen bei den Olympischen Spielen in Tokio. Wie Jolanda Neff, Sina Frei und Linda Indergand Schweizer Sportgeschichte schrieben.

Simon Häring, Tokio
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Der Moment um 09.15 Uhr, als der Schweiz der Atem stockt: Jolanda Neff fährt über die Ziellinie und ist Olympiasiegerin.

Der Moment um 09.15 Uhr, als der Schweiz der Atem stockt: Jolanda Neff fährt über die Ziellinie und ist Olympiasiegerin.

Christopher Jue / EPA

Die Nation hält an jenem Dienstag, 27. Juli, um 09.15 Uhr Schweizer Zeit für einen Moment den Atem an, als Jolanda Neff in Tokio im Mountainbike-Rennen der Frauen über die Ziellinie fährt. Etwas mehr als eine Minute später erreichen auch Sina Frei und Linda Indergand das Ziel: Gold, Silber und Bronze bei den Olympischen Spielen.

Das gab es in der Schweizer Olympia-Geschichte erst zwei Mal: 1924 in Paris am Pferdpauschen und 1936 in Berlin im Bodenturnen. Aber es ist das erste Mal, dass dieses Kunststück einem Frauen-Trio glückt. Es ist nicht nur ein Kapitel Sportgeschichte, sondern auch eine Bestätigung für die Bemühungen, im Schweizer Sport Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen. Von den 116 Teilnehmenden in Tokio sind 57 Frauen – so viele wie nie zuvor.

Von der Sportler-RS zum Dreifach-Sieg in Tokio

Im Zielgelände der Mountainbike-Strecke im 100 Kilometer von Tokio entfernten Izu liegen sich an diesem Nachmittag mit Neff, Frei und Indergand drei dieser Schweizerinnen in den Armen, ungläubig und verdreckt, aber mit Tränen der Freude in den Augen.

Sina Frei, Jolanda Neff und Linda Indergand liegen sich in den Armen und freuen sich über ihre jeweiligen Medaillen.

Sina Frei, Jolanda Neff und Linda Indergand liegen sich in den Armen und freuen sich über ihre jeweiligen Medaillen.

Manthey Stephane / Presse Sports

Die beiden 28-jährigen Neff und Indergand hatten 2012 gemeinsam die Rekrutenschule für Spitzensportler absolviert, die 24-jährige Frei tat dies fünf Jahre später. «Ich verbringe wahrscheinlich mehr Zeit mit Linda und Sina als mit meinem eigenen Freund», mutmasst Jolanda Neff. «Wir kennen uns schon so lange, sind ausserhalb der Rennen Freundinnen», sagt die Urnerin Indergand, die wie die Zürcherin Frei im Weltcup noch nie auf dem Podest gestanden ist. Es sei ein Kindheitstraum, der in Erfüllung gegangen sei. Frei fügt an:

«Dass ich mit zwei anderen Schweizerinnen auf dem Podest stehen darf, ist für mich das i-Tüpfelchen.»

Ganz oben steht Jolanda Neff, die alles überstrahlt. Als der Schweizer Psalm abgespielt wird, zittert sie am ganzen Körper und weint vor Freude.

Bei der Siegerehrung schiessen Jolanda Neff die Tränen in die Augen.

Bei der Siegerehrung schiessen Jolanda Neff die Tränen in die Augen.

Christophe Ena / AP

«Ich hoffe, dass ich nicht aufwache und alles war nur ein Traum», sagt sie. Die Ostschweizerin hatte die Konkurrenz auf der anspruchsvollen Rundstrecke mit vielen technischen Passagen, rasanten Abfahrten und steilen Abschnitten nach Belieben dominiert, obwohl sie vor sechs Wochen die linke Hand gebrochen und erst in Tokio wieder in den Sattel zurückgekehrt war. Das sei kein Zufall: Die Schweizerinnen investieren seit Jahren mit speziellen Trainings mehr Zeit in die Fahrtechnik als ihre Konkurrenz. In der Nacht auf Dienstag hatten Ausläufer des Tropensturms Neparak für starke Regenfälle gesorgt. Neff sagt: «Das hat die Strecke völlig verändert und hat uns in die Karten gespielt. Dass wir uns so schnell daran anpassen konnten, hat den grossen Unterschied gemacht.»

Nach Lungenkollaps und Milzriss zu Olympia-Gold

Jolanda Neff war zwar schon Welt- und Europameisterin und gewann drei Mal den Gesamtweltcup, doch vor den Olympischen Spielen in Tokio galt die Ostschweizerin für einmal nicht als grosse Favoritin. Denn hinter ihr liegen anderthalb schwierige Jahre. Am Weihnachtstag 2019 hatte sie sich bei einem schweren Trainingssturz in den USA, wo sie mit ihrem Freund, dem Downhill-Fahrer Luca Shaw, einen Grossteil des Jahres lebt, einen Milzriss und mehrere Rippenbrüche zugezogen und einen Lungenkollaps erlitten. «Es war eine schwierige Zeit für mich», sagte Neff.

2019 hatte Jolanda Neff in Tokio das bisher einzige Rennen auf der Olympia-Strecke gewonnen. «Es war mein letzter Sieg und mein letztes Rennen, bei dem wir vor Zuschauern gefahren sind», erinnerte sie sich. Die beiden Mountainbike-Rennen gehörten bei den Olympischen Spielen zu den wenigen Wettbewerben, bei denen Zuschauer zugelassen sind. «Es kam mir wie eine Ewigkeit vor und ich befürchtete, dass ich nie mehr Bike-Rennen vor Zuschauern fahren würde und das tun, was mir so viel Freude bereitet. Es ist eine wunderschöne Geschichte, dass nun alles aufgegangen ist», sagt Neff.

Sie erinnere sich an das Gefühl, das sie verspürt habe, als sie erstmals nach sechs Wochen wieder im Sattel gesessen war: «Ich hatte mich so sehr auf diesen Moment gefreut und war so glücklich, überhaupt wieder Rad fahren und ein Rennen bestreiten zu dürfen», sagt sie. «Ich hatte schon vor dem Rennen ein sehr gutes Gefühl.» Vermutlich war das einer der grössten Schlüssel zum Erfolg, der ihr eine gewisse Gelassenheit schenkte. «Früher dachte ich oft: ‹Heute muss es klappen.› Und dann kam der nächste Rückschlag. Es war eine schwierige Zeit, und ich habe nicht gewusst, ob ich noch einmal mein Level erreichen würde. Ich stellte mir die Frage, ob ich noch einmal so würde Rennen fahren können, wie ich das zuvor getan hatte», sagt Neff.

Nach überstandener Verletzung zweifelte Jolanda Neff teilweise auch an ihren Fähigkeiten. Am 27. Juli hat sie diese aber auf jeden Fall abrufen können.

Nach überstandener Verletzung zweifelte Jolanda Neff teilweise auch an ihren Fähigkeiten. Am 27. Juli hat sie diese aber auf jeden Fall abrufen können.

Alexander Wagner

Neffs Dank an ihren Freund Luca, die Familie und ihr Team

Wenn man so viel gewonnen habe wie sie vor ihrer Verletzung, seien die Zweifel besonders gross, wenn man plötzlich gar nicht mehr gewinne. In Tokio stand sie deshalb mit einem ganz anderen Ziel am Start:

«Ich wollte das Rennen einfach geniessen. Denn ich wusste: Ich habe die beste Familie, meinen Freund und mein Team hinter mir. Und egal, was passiert, sie stehen immer hinter mir.»

Dann stockte Jolanda Neff der Atem – wie der ganzen Schweiz an diesem sporthistorischen Tag.