Mentales Training in Zeiten von Corona: Eine Sinnfrage für die starken Helden

Mit der Corona-Pandemie ändern sich auch die Themen der Sportpsychologie im Umgang mit den Athleten.

Rainer Sommerhalder
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Spitzensportler sind stark im Kopf, voller Selbstvertrauen und überzeugt vom Gewinnen. Mit der Bedrohung durch das Coronavirus schwindet die Bedeutung dieses mentalen Erfolgsmodells. Sportliche Ziele lösen sich in Luft auf oder werden zumindest auf die lange Bank geschoben. Ein Kräftemessen findet nicht statt, selbst das im Universum des Sports so zentrale Gruppenerlebnis fällt aus. An seine Stelle treten Ungewissheit, Verunsicherung, vielleicht sogar existenzielle Fragen. Denn auch der mental stärkste Athlet ist zuerst einmal Mensch und mit einer Situation konfrontiert, die er in dieser drastischen Form noch nie erlebt hat.

Tennisprofi Stan Wawrinka zelebriert den Aspekt der mentalen Stärke öfters mit einer Geste.

Tennisprofi Stan Wawrinka zelebriert den Aspekt der mentalen Stärke öfters mit einer Geste.

Bild: Michael Dodge/EPA (Melbourne, 27. Januar 2020)

Die aktuelle Lage hat auch Einfluss auf die Arbeit von Sportpsychologen und Mentaltrainern. «Es ist eine Phase, in der Sportler durchschnaufen, sich orientieren, neu finden und vielleicht sogar neu erfinden müssen», sagt Sportpsychologe Jörg Wetzel. Er gehört seit vielen Jahren zum Team von Swiss Olympic bei den Olympischen Spielen. Auch sein grösstes Projekt für dieses Jahr hiess bis vor kurzem «Tokio 2020».

Sportler auf der Suche nach mentaler Gesundheit

Wetzel sagt, dass für Athleten auch privat gerade ziemlich viel anders ist. Ihr Leben besteht normalerweise aus vielen Reisen, Trainingslagern und Wettkämpfen in aller Welt. «Nun sitzen sie Zuhause, vielleicht bei den Eltern oder in einer WG. Die klare Struktur, nach der ihr Leben getaktet ist, hat derzeit keine Gültigkeit». Auch Wetzels Berufskollege Hanspeter Gubelmann spricht von «orientierungslosen Sportlern», die sich nun zuerst einmal an einen anderen Alltag gewöhnen und ein mentales Gleichgewicht finden müssen. «Mentale Gesundheit ist derzeit wichtiger als mentale Stärke».

Mentaltrainer Lukas Christen, der als siebenfacher Paralympics-Sieger in der Leichtathletik selber auf eine aussergewöhnlich erfolgreiche Spitzensportkarriere zurückblickt, beobachtet «eine andere Seite von Sportlern, die jetzt zum Vorschein kommt». Er spricht von Athleten, «die auch mental regenerieren» und mehr und mehr den Wert dieser Entspannung schätzen lernen. «Ich habe einen Eishockeyspieler erlebt, der jetzt realisiert, auf welch hohem Niveau er während Monaten gedreht und einfach so funktioniert hat». Beinahe wie im Hamsterrad.

Wetzel, Gubelmann und Christen sind sich einig, dass die aktuelle Situation, die für einmal sehr wenig Ablenkung und viel Einsamkeit bietet, für Sportler auch eine Chance bietet. Als «Prozess von aussen nach innen zu sich selbst» bezeichnet es Wetzel, «in sich gehen und sich selbst entdecken», sagt Gubelmann dazu, «Wer bin ich und was will ich?» nennt Christen einen elementaren Aspekt.

Es ist die Sinnfrage, auf die erfolgreiche Athleten derzeit Antworten suchen. «Und vielleicht auf diese Weise gestärkt aus der ungewohnten Situation herauskommen», denkt Gubelmann. Dann etwa, wenn es ihnen gelingt, die Situation ohne Druck smart zu meistern, neue Aspekte des Mentaltrainings kennen zu lernen und an ihrem Selbstvertrauen zu arbeiten. Auch Jörg Wetzel spricht das Selbstvertrauen an erster Stelle an.

Der Solothurner nennt ein Beispiel, das man sich in der neuen Situation durchaus Gedanken über das Mentaltraining macht. Wenige Tage nach dem Lockout meldete sich der Leistungssportchef der Schweizer Sportschützen bei ihm mit der Frage, wie man diese Zeit im Bereich Sportpsychologie nutzen könne Wetzel spricht von mentalen Basics, die nun im Vordergrund stehen. Dinge, für die sonst oft die Zeit fehlt. Lukas Christen sagt, dass die Entwicklung des Selbstbewusstseins nur «aus einer inneren Ruhe heraus funktioniert». Der Luzernern empfiehlt seinen Athleten, im mentalen Bereich «Routinen aufzubauen».

Hanspeter Gubelmann weiss, dass es mit der Lust und Leidenschaft fürs Training derzeit schwierig sei. Er empfiehlt den Sportlern, bewusst eine Distanz zum harten Trainingsalltag zu suchen. Auch Jörg Wetzel gibt zu bedenken, «dass Sportler über ein Ziel funktionieren. Weil dieses Ziel derzeit fehlt, ist es mit der Motivation eine lauwarme Sache». Umso wichtiger, dass man sich jetzt mit Dingen wie der Karriereplanung, einem Plan B, einem zweiten Standbein auseinandersetzt. Und so die Sinnfrage auch ohne nächstes Wettkampfziel für sich positiv beantworten kann.