Vor wenigen Wochen dachte ich, so könnte sich auch ein Asylsuchender fühlen. Mein Schweizer Pass war plötzlich nirgends mehr willkommen. Zudem gehörte ich wegen meines Jahrgangs zu einer Risikogruppe, zu der man möglichst keinen Kontakt haben sollte. Kurz darauf machten fast alle Länder ihre Grenzen dicht und ich realisierte, dass es anderen nicht besser geht. Als zwei Wochen später der Bundesrat die Altersgrenze der Risikogruppe um fünf Jahre erhöhte, fühlte ich mich etwas besser, da ich plötzlich nicht mehr dazugehörte.
Doch welche Spuren wird das Coronavirus nachhaltig hinterlassen? Werden wir uns bei der Begrüssung wieder die Hände schütteln oder drei Küsschen geben? Wird das Vermummungsverbot noch ein Thema sein, wenn wir nur mit Schutzmasken das Haus verlassen dürfen? Wirken die Diskussionen um die Schliessung der paar hundert Meter Bettlachstrasse nicht banal angesichts der Tatsache, welche Strassen, öffentlichen Plätze und Geschäfte heute gesperrt oder geschlossen sind.
Werden Sitzungen weiter in Restaurants stattfinden oder werden wir uns an Videokonferenzen gewöhnt haben? Darf die preisgekrönte Begegnungszone der Stadt Grenchen ihren Namen auch dann noch behalten, wenn sich der Begriff «social distancing» in unseren Köpfen und im Duden festgesetzt haben wird? Werden Senioren und Seniorinnen als Risikogruppe in Erinnerung bleiben und deshalb möglichst zurückgezogen leben, nachdem jahrelang die Erhöhung des Rentenalters propagiert wurde. Wird die Bewertung «nicht systemrelevant» auch nach Ende der Coronakrise zu Zwangsschliessungen von Unternehmen und Ausgrenzung von älteren Menschen führen?
Ich hoffe nicht. Der Begriff systemrelevant wurde nach der letzten Finanzkrise für die fünf grössten Finanzinstitute der Schweiz verwendet. Heute wird er wegen des Coronavirus auch für die Unternehmen benutzt, welche die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens decken. Alle anderen, angeblich nicht systemrelevanten Geschäfte und Einrichtungen wie Coiffeur-, Sport-, Blumen-, Papeterie- und Modegeschäfte, Restaurants, Theater, Kinos, Museen, Fitness- und Kosmetikstudios gelten als nicht systemrelevant.
Doch wie traurig und freudlos wäre das Leben ohne diese angeblich nicht systemrelevanten Einrichtungen. Und wie hart würde es die Wirtschaft treffen, wenn die zur grössten Konsumentengruppe gehörenden und unzählige Stunden Freiwilligenarbeit leistenden älteren Menschen sich völlig zurückziehen würden? Es gibt nicht nur Grundbedürfnisse. Für die gesunde Seele brauchen wir auch die Menschen, die heute in nicht systemrelevanten Bereichen tätig sind. Denn etwas zeigt uns die Coronakrise: Wir sind alle systemrelevant!