Startseite
Solothurn
Grenchen
Der ehemalige CEO des Grenchner Uhrencups, Roger Rossier, stiesss in Chile auf 22 Angehörige. Nun lernt er Spanisch, um auch mit jenen zahlreichen Familienmitgliedern Kontakt zu haben, die nicht Englisch sprechen.
Der entscheidende Hinweis kam durch eine geschlossene Tür. Jetzt hat Roger Rossier gefunden, wovon er immer geträumt hat: seine Herkunftsfamilie. Nicht nur für ihn hat sich in Chile ein Kreis geschlossen, der im Drama des Zweiten Weltkriegs den Anfang nahm.
«Ich wünschte mir immer eine grosse Familie. Aber ich hatte keine, bis ich auf einen Schlag 22 Angehörige fand.» Roger Rossier ist mit dem Schmerz seiner Mutter Sabina aufgewachsen, die das Schlimmste erlebt hatte, was einem Kind zustossen kann – von der eigenen Mutter verlassen zu werden und im Krieg allein dazustehen.
1943 in Graz: Die 13-jährige Sabina und ihr jüngerer Bruder Camillo lebten nach der Scheidung der Eltern beim Vater, als dieser an die Front beordert wurde. Sabina musste die Schule schwänzen, um die kleine Halbschwester zu hüten. Deshalb fand die Mutter bei ihrer Flucht nach Südamerika im Schulhof nur Camillo. Die Zeit drängte, der Zug an die Grenze wartete nicht. So trat die Mutter mit ihrem neuen Partner und Camillo die Flucht an. Sabina blieb zurück, verlor die kleine Schwester, die letzten Bezugspersonen, landete in einem Heim, dann als Verdingkind bei Bauern, wo sie schliesslich ausriss und ins Tessin wanderte. Fortan schlug sie sich mit Gelegenheitsjobs im Gastgewerbe durch. In Zürich lernte sie ihren Mann kennen, den Nachzügler einer verarmten Waadtländer Familie.
Roger Rossier besitzt das Familienbüchlein seiner Mutter und einen Brief, den Camillo ihr aus Chile schrieb. Ermutigt von seiner Lebensgefährtin Andrea, machte sich der Ökonom und Treuhänder, der auch als ehemaliger Uhrencup-CEO und Kolumnist dieser Zeitung bekannt ist, vor drei Jahren auf die Suche nach seiner Familie. «Andrea hat mir nach dem Motto‹ zurück zu den Wurzeln› zum 50. Geburtstag eine Reise nach Graz geschenkt. Ich habe vorgängig allen Leuten dort geschrieben, die den Mädchennamen meiner Mutter tragen: Schimunek. Keiner wusste etwas.» Nur von einer Frau kam keine Antwort. Sie öffnete nicht einmal die Tür, als Roger Rossier persönlich davor stand. Zurück in der Schweiz eröffnete Rossier einen Facebook-Account und suchte auf diese Weise weiter nach seiner Familie.
Zufällig begann ein Nachkomme des Onkels von Sabina, ein gewisser Martin aus Wien, ebenfalls nach der Familie zu suchen und schrieb alle Grazer Schimunek an. Die Frau, die sich schon vor Rossier verbarrikadiert hatte, wollte wieder nichts wissen. «Offenbar war Martin um einiges hartnäckiger als ich. Jedenfalls brachte er die misstrauische Dame so weit, den Namen von mir durch die Tür zu rufen», erzählt Roger Rossier und lacht. «Über Facebook fand er mich und dank guter Beziehungen gelang es Martin schliesslich, Camillos Familie in Santiago de Chile zu finden.»
An Weihnachten vor bald zwei Jahren stand Roger Rossier das erste Mal seinen Cousinen Veronica, Brigitte und Evelyne und seinem Cousin Harald gegenüber. «Roje», wie die Chilenen ihn nennen, fühlte sich im Kreis seiner Verwandten sofort wohl. Seit 2013 lernt er Spanisch, um auch mit denjenigen der zahlreichen Familienmitglieder Kontakt zu haben, die nicht Englisch sprechen. Inzwischen unterhält die Sippe eine lebhafte Gruppe auf Whatsapp.
«Jetzt habe ich eine wunderbare, grosse Familie. Als ich sie mit Andrea und meinen Söhnen Manuel und Matteo besuchte, organisierten sie uns in Santiago eine Wohnung, füllten den Kühlschrank, stellten eine Grossraumlimousine mit GPS zur Verfügung und waren einfach für uns alle da. Sie sind herzlich, aber nicht vereinnahmend. Sie haben uns alle aufgenommen, als würden wir uns seit Jahrzehnten kennen.» Diesen Frühling lief Roger Rossier den Marathon in Santiago. «Die Familie, mindestens ein Dutzend Personen, reisten mit Bus und U-Bahn quer durch die Stadt, um mich alle paar Kilometer anzufeuern. Das war ein unbeschreibliches Gefühl.»
Nicht nur Rossier profitiert von seinen Verwandten. «Für sie ist es ebenso wichtig, mich gefunden zu haben, um die Wunden zu heilen, die die Trennung im Zweiten Weltkrieg geschlagen hat», ist er überzeugt. Der Grund dafür ist tragisch, für die Zeit der Diktaturen in Südamerika aber nicht ungewöhnlich: Camillo ist verschollen. Auf der Suche nach Arbeit und Sicherheit für seine Familie verschwand er irgendwo in den USA. Vom bescheidenen Wohlstand sanken seine Frau und die vier Kinder in eine Slumexistenz ab, aus der sie sich in mühsamer Arbeit und fast eine Generation später wieder befreiten.
Im Fall von Roger Rossiers eigenen Eltern führte der Weg in eine gesicherte Existenz von Zürich über Lausanne Ende der Fünfzigerjahre nach Grenchen in die Fabrik. «Anfänglich wohnten wir im ‹Rössli› ehe meine Eltern eine Wohnung fanden, und zwei Wochen nach der Ankunft wurde ich hier geboren.»
«Meine Geschichte hat mir den Blick für das Leid der Flüchtlinge geschärft, die heute unterwegs sind. Viele von ihnen tragen eigene Erlebnisse mit sich wie meine Mutter Sabina und mein Onkel Camillo, und jede dieser Geschichten muss einmal aufgearbeitet werden. Noch sind die Leute zu erschöpft und verängstigt, aber in einer oder zwei Generationen wird es so weit sein», sinniert Roger Rossier. Im Rückblick auf seine Vorfahren empfindet er auch Bewunderung: «Es ist unglaublich, dass Menschen trotz furchtbarer Erfahrungen eine Existenz aufbauen und im Leben Sinnvolles schaffen können.» Seinen nächsten Marathon im Frühling 2016 in Paris will Rossier deshalb zur Unterstützung einer Sammelaktion zugunsten von Médecins Sans Frontières laufen.