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In den Grenchner Alterszentren Kastels und Weinberg ist das Pflegepersonal mit modernen Kommunikationsgeräten ausgestattet. Damit sind sie gut aufgestellt. Denn bis 2022 müssen alle Alters- und Pflegeheime elektronische Patientendossiers einführen.
Mehrere Wochen und Monate in diesem Frühling waren intensiv für das Personal der Alterszentren Kastels und Weinberg. Das lag nicht etwa daran, dass die Bewohnerinnen und Bewohner «schwieriger» wurden oder mehr Betreuung benötigten. Auch nicht daran, dass die Arbeiten im und am Neubau des Zwischentraktes im Kastels die normalen Abläufe in einem Mass beeinflusst hätten, der über das Normale hinausging. Nein, es ging vielmehr darum, die gesamte Organisation und alle Abläufe in ein neues Zeitalter zu überführen, das digitale. Ein kostspieliges, zeit- und personalintensives Unterfangen.
Zentrale Personen in diesem Unterfangen waren Nathalie Obrecht, die seit rund zwei Jahren als Projektleiterin für die integrierte Qualitätsmanagement Sicherung (IQMS) zuständig ist, und Mirko Schumacher, der für die ganzen IT-Systeme der beiden Häuser verantwortlich ist. Auch im «Kernteam»: Cécile Boillat, Leiterin des Pflegedienstes, und Sonja Leuenberger als Geschäftsführerin der Alterszentren Grenchen.
Der Kostendruck hat in der Alterspflege genauso zugenommen wie in allen anderen Bereichen des Gesundheitswesens. Die Zahl der Hochbetagten nimmt zu, die Leute gehen viel später ins Altersheim als noch vor ein paar Jahren, meist erst dann, wenn sie schon pflegebedürftig sind. Das heisst, auch das Personal hat mehr Pflegebedürftige zu betreuen als früher und ist dementsprechend umso mehr gefordert.
Bund und Kanton verlangen von allen Playern im Gesundheitswesen, dass sie ihre Aufgaben bestmöglich erfüllen, aber auch so wenige Kosten verursachen wie möglich. Der Bundesrat hat im März letzten Jahres beschlossen, Spitäler müssten bis 2020 alle patientenrelevanten Daten digital erfassen und weiterverarbeiten, d. h. die sogenannten elektronischen Patientendossiers (EPD) einführen. Man verspricht sich dadurch eine Erhöhung der Qualität der Behandlung und der Patientensicherheit, aber auch eine Verbesserung in der Effizienz der Behandlung.
Wie viele Personen tatsächlich schon bald über ein elektronisches Patientendossier verfügen werden, ist allerdings unklar. In den meisten Kantonen dürfte es frühestens im nächsten Jahr so weit sein. Erst wenn das Patientendossier vom Bund zertifiziert wurde, ist der Datenaustausch über die Kantonsgrenzen hinaus möglich.
Einige Deutschschweizer Kantone wollen aber nicht mehr so lange warten. Dazu zählen die Kantone Basel-Stadt, Baselland und Solothurn, die sich im Trägerverein eHealth Nordwestschweiz zusammengeschlossen haben. Technische Probleme und Verzögerungen bei IT-Projekten sind an sich nicht überraschend. Doch beim EPD hat der Gesetzgeber eine klare Zeitvorgabe gemacht. So müssen alle Spitäler bis Mitte April 2020 ihre Systeme so weit angepasst haben, dass sie mit dem Patientendossier arbeiten können. Dies hat das Parlament im Rahmen der Beratung des EPD in das Krankenversicherungsgesetz (KVG) hineingeschrieben. In der Deutschschweiz sind die Nordwestschweizer Kantone Basel-Stadt, Baselland und Solothurn mit der Einführung des elektronischen Patientendossiers am weitesten fortgeschritten. Alters- und Pflegeheime haben Zeit bis 2022.
Bund und Kanton schreiben vor, dass bis 2022 in Alters- und Pflegeheimen mit elektronischen Patientendossiers (EPD) gearbeitet werden muss (siehe separater Artikel). Die Alterszentren Kastels und Weinberg sind diesbezüglich ihrer Zeit voraus und haben wesentliche Elemente, die für die Einführung der EPD notwendig sind, bereits in Angriff genommen und umgesetzt. Dazu gehören die Bewohnermutation und die elektronische Pflegedokumentation mit einer dafür spezifischen Lösung aus Software und Hardware, einem Programm mit einer zentralen Datenbank und entsprechenden Eingabegeräten für die Mitarbeitenden.
Aber auch in anderen Bereichen hält die Digitalisierung Einzug, nicht nur in der Pflege. Alle Prozesse, die gesamte Dokumentation, Konzepte und Regelwerk der ganzen Institution wurden digitalisiert. Mit der Digitalisierung wollte man im Wesentlichen folgende Ziele erreichen, erklärt Sonja Leuenberger: «Wir wollen Wissen sichern. Denn was bisher mit dem Ausscheiden einer Fachperson automatisch verloren ging und eventuell gar neu erarbeitet werden musste, kann man nun digital festhalten und den neuen Mitarbeitenden so zugänglich machen.»
Bestehende Konzepte sollen überarbeitet und digital erfasst werden. Das macht sie transparent und überprüfbar. Die Prozesse in den Alterszentren Grenchen sollen auch mit «Qualivista», dem von den Kantonen Basel und Solothurn erarbeiteten, verbindlichen Qualitätsmanual für Alters- und Pflegeheime gekoppelt werden. Die Qualitätsrichtlinien von «Qualivista» legen Standards für die betrieblichen Leistungen fest.
Schon vor zwei Jahren begann Obrecht mit der Implementierung von IQMS. «Dabei geht es darum, Abläufe zu standardisieren und die nötigen Dokumente, Formulare und Unterlagen digital bereitszustellen», erklärt sie. Am Beispiel des technischen Dienstes wird das verdeutlicht: Ist irgendwo etwas defekt, meldet die Mitarbeitende oder ihre Vorgesetzte das dem technischen Dienst per Mail. Kein: «irgendwer ruft an und keiner weiss nachher, wer was in Auftrag gegeben hat» mehr. Der technische Dienst quittiert die Anfrage und gibt auch eine Zielvorgabe an, bis wann die Reparatur gemacht wird. Ist der Task erledigt, gibt es wiederum eine Meldung an alle, die das wissen müssen, per E-Mail. «Dasselbe gilt für Feedbacks, die so erfasst und systematisch verarbeitet werden.»
Die gesamte Dokumentenablage erfolgt internetbasiert digital, alle arbeiten mit denselben Mitteln, die Kompetenzen sind klar geregelt. Werden Prozesse oder Konzepte geändert, geschieht das auch digital und es wird festgelegt, wer was dazu zu sagen hat und wie lange die Gültigkeit des Konzepts oder der Änderung sein soll. Im Netz stehen Musterformulare und Musterdokumente bereit, die einheitlich sind und sogar in gewissen Fällen Homeoffice ermöglichen.
Ein weiteres Feld ist die digitale Erfassung der Bewohner, die Bewohnermutation. Was bisher auf schriftlichem Weg erfasst wurde, erfolgt künftig digital. Gibt es Änderungen, beispielsweise bei den Adressen von Angehörigen oder ähnlich, müssen nun keine Kopien mehr gemacht und den Abteilungen geschickt werden, sondern die betroffenen Personen und Abteilungen erhalten ein E-Mail. «Das bedingt, dass die Mitarbeitenden regelmässig ihren E-Mail-Account abrufen müssen. Das ist für manche Neuland, für die meisten aber kein Problem», so Obrecht.
Viele Abläufe in einer Institution wie einem Alters- und Pflegeheim unterliegen strengen Vorschriften und festen Regeln. Alle pflegerischen Massnahmen und Abweichungen vom Normalen, was den Gesundheitszustand eines Bewohners betrifft, müssen minutiös festgehalten und dokumentiert werden. Jeder Bewohner hat ein eigenes Dossier, in welches all diese Berichte eingetragen werden und auch alle relevanten Informationen über die Person vermerkt sind. Die Pflegenden tauschen sich an Rapporten täglich und wöchentlich darüber aus, auf was man achten muss und was eventuell an pflegerischen Massnahmen neu zum schon vorhandenen Programm dazukommt.
Auch ärztliche Anweisungen, Medikamentenverschreibungen, besondere Leistungen wie Physiotherapie werden vermerkt. Dadurch kann man einen hohen Standard und eine umfassende und auf den Patienten zugeschnittene Pflege garantieren, weil alle Pflegenden sich genau über den Zustand des Bewohners, der Bewohnerin informieren und die bereits getätigten Pflegedienstleistungen abrufen können. Bei diesen Prozessen sind auch oft Parteien beteiligt, die Kosten verrechnen oder Leistungen bezahlen – sprich Krankenkassen, Spitex und andere. Diese wollen im Detail wissen, wofür sie bezahlen, oder im Fall der Spitex – sie rechnet auf die Minute genau ab – müssen die Spitexmitarbeitenden deshalb alle geleisteten Pflegedienstleistungen genauestens mit Zeitdauer festhalten.
Auch der Kanton schaut den Heimen regelmässig «über die Schulter», sie müssen jährlich darüber Rechenschaft ablegen, was getan und wofür Geld ausgegeben wird. Dafür will der Kanton Einblick in diverse Akten, die zu diesem Zweck mühsam zusammengesucht und bereitgestellt werden müssen. Diese Überprüfung ist laut Sonja Leuenberger übrigens in diesen Tagen eben erst erfolgt, und die Experten zeigten sich zufrieden mit dem neuen System.
Der grosse Brocken bei der Implementierung war die Einführung der elektronischen Pflegedokumentation. Kernstück der elektronischen Pflegedokumentation ist die entsprechende Software. Vier verschiedene Anbieter wurden evaluiert, und man entschied sich für «CareCoach», einer Software, die laut Leuenberger von einer sehr praxisbezogenen Firma entwickelt, vertrieben und betreut wird, die bereits seit 10 Jahren in diesem Bereich tätig ist.
Die Daten der Bewohnerinnen und Bewohner der beiden Häuser wurden vollständig am Computer erfasst. Dafür wendeten einige Mitarbeitende insgesamt 800 zusätzliche Arbeitsstunden auf. Diese Erhebung aller relevanten Daten wird nun bei jedem Neueintritt vorgenommen und kann digital laufend aktualisiert werden. Neu kamen nun auch die Pflegedienstleistungen dazu, die für jede Bewohnerin und jeden Bewohner digital erfasst wurden.
Cécile Boillat, Leiterin des Pflegedienstes
Parallel dazu richtete Mirko Schumacher ein erweitertes WLAN ein mit einem Bereich, der für Bewohner und Besucher zugänglich ist, und einem geschützten Bereich, über den das neue System laufen sollte. Ein neuer Server war nötig, um die Daten zu speichern sowie eine Backup-Lösung im jeweils anderen Haus. Die Häuser wurden neu verkabelt und neue Access-Points für das WLAN wurden eingerichtet. Schumacher beschaffte rund 150 Eingabegeräte – Smartphones ohne SIM-Karte, also solche, mit denen man zwar nicht telefonieren kann, mit denen man aber über WLAN und die installierte Software CareCoach Daten abrufen und eingeben kann. Dazu einige Tablets, die auf den Stationen zum Einsatz kommen.
Im März wurden die rund 130 Mitarbeitenden in der Pflege an diversen Kursen geschult. Zur Schulung hatte Schumacher die echte Datenbank der Bewohner kopiert, und die Mitarbeitenden konnten so mit «echten» Daten üben, ohne ein Risiko einzugehen, wenn in der Schulung etwas falsch eingetragen wurde. Cécile Boillat: «Für die Mitarbeitenden bedeutet das neue System eine grosse Umstellung, aber ich habe mehrheitlich sehr positive Feedbacks erhalten.»
Die meisten Mitarbeitenden in der Pflege seien selber mit der digitalen Welt vertraut, und insbesondere bei jungen Bewerberinnen, die ihre Ausbildung im Spital oder entsprechenden Institutionen absolviert hätten, komme häufig als eine der ersten Fragen, mit welchem elektronischen System man denn hier arbeite. «Die jungen Leute machen schon in der Ausbildung Bekanntschaft mit solchen elektronischen, digitalen Pflegedokumentationsprogrammen und haben demzufolge auch keine Schwierigkeiten damit.»
Das System ist einfach erklärt: Auf den Handgeräten sind alle Stammdaten der Bewohnerinnen und Bewohner vorhanden, und der Pflegende erhält auf Knopfdruck alle Infos über die Pflegedienstleistungen, die man bei diesem Bewohner machen muss und welche bereits gemacht wurden. Auch Informationen darüber, ob sich beispielsweise in der Frühschicht oder tags zuvor etwas Spezielles ereignet hat und worauf man deshalb achten muss, beispielsweise, ob jemand über Bauchschmerzen geklagt hat, Durchfall hatte und so weiter. Muss die Pflegende zum Beispiel regelmässig den Blutdruck oder die Temperatur messen, gibt sie die Werte über das Gerät ein, die Software liefert dafür die notwendigen Grundlagen und Anleitungen.
Stündlich holt sich CareCoach auf dem zentralen Rechner diese Daten, synchronisiert die Eingabegeräte und aktualisiert die Datenbank. Die Mitarbeitenden können von sich aus keine Änderungen der Daten über die Eingabegeräte vornehmen, ohne die dafür nötige Autorisierung. Es sind auch nur die Bewohnerinnen und Bewohner für die Mitarbeiterin sichtbar, die sie effektiv zu pflegen hat.
Die Kompetenzen betreffend Zugriff auf die Daten werden je nach Funktion und Station vergeben. Von aussen ist das System geschützt, denn nur die angemeldeten Geräte, die durch ihre MAC-Adresse identifiziert sind, kommen überhaupt ins WLAN. Man hat die Firewall entsprechend aufgerüstet.
Auch im Fall eines Stromausfalls sind die Daten sicher. Notaggregate mit einer halben Stunde Autonomie ermöglichen ein kontrolliertes Herunterfahren der Server. Die Mitarbeitenden können autonom weiterarbeiten, denn auch die Eingabegeräte laufen autonom, sind also nicht auf den zentralen Server angewiesen. Die Daten auf dem Server, der selber über ein mehrstufiges internes Back-up verfügt, werden ins andere Haus gespiegelt und können zurückgespielt werden. Erst bei der Synchronisation nehmen die Eingabegeräte wieder Verbindung mit dem Server auf, wenn dieser wieder Strom hat.
Das gibt es alles nicht umsonst: Die Kosten für das neue WLAN, also auch bewohner- und besucherseitig, belaufen sich auf 180'000 Franken, die Software CareCoach inklusive Eingabegeräte und Server auf 130'000 Franken. Folgekosten, weil auch die ganze Telefonie, der Lichtruf, die Schliessung der Türen sowie die Beschriftung und Nummerierung der Zimmer in beiden Häusern angepasst werden musste, beliefen sich nochmals auf 150'000 Franken.
Trotz der hohen Kosten – die zusätzlichen Arbeitsstunden gar nicht erst gerechnet – habe das neue System enorme Vorteile, sagt Gesamtleiterin Sonja Leuenberger: «Wir haben einen grossen Schritt in die Zukunft getan. Auf einen Schlag wurde alles überprüft und alles ist jetzt logisch einwandfrei und auf dem neusten Stand.» Das eine habe zwar das andere nach sich gezogen und es sei eine ordentliche Belastung gewesen, nebst dem Neubau auch diese «Baustelle» abzuschliessen.
Sonja Leuenberger, Geschäftsführerin der Alterszentren Grenchen.
Auf die Frage, ob jetzt mit dem neuen System auch Einsparungen im Personalbereich gemacht werden, sagt Leuenberger: «Das war nie die Idee. Wir verlagern Büroarbeiten, die nun einfach gemacht werden müssen, vom Stationszimmer zum Zimmer des Bewohners, der Bewohnerin. Unsere Pflegenden verbringen mehr Zeit mit den ihnen anvertrauten Personen, und das ist doch eine gute Sache.» Ausserdem biete das neue System auch künftig noch grössere Vorteile, weil Schnittstellen für den Hausarzt oder andere Stellen möglich sind.
Zudem sei CareCoach auch kompatibel mit dem RAI System (Resident Assessment Instrument) des Kantons, einem System zur Bewohnerbeurteilung, Bedarfserfassung, Pflegeplanung, Qualitätssicherung und Kostensteuerung im Langzeitpflegebereich. Dieses System ist relevant für die Taxierung nach Pflegestufen und die entsprechenden Beiträge von Krankenversicherern oder für die Berechnung von Ergänzungsleistungen.