Die deutsche Spitzschrift legt Margaretha Röthlisberger Steine in den Weg. Jetzt sucht die Grenchnerin jemanden, der ihr dabei helfen kann, die Aufsätze ihrer Mutter zu entziffern.
Als Margaretha Röthlisberger einen Blick in ihren Wohnzimmerschrank wirft, kommen ihr zwei Aufsatzhefte in die Hände. Das Datum des Schuljahres, 1917, gibt den Anlass, dass sie die 100-jährigen Texte anschaut, zum ersten Mal seit vielen Jahren. Doch anders als früher, kann sie die Aufsätze nicht mehr lesen. Sie hat die Spitzschrift, die sie einst beherrschte, vergessen. Nun hofft die Rentnerin auf Unterstützung.
Ursprünglich haben die Hefte der Viertklässlerin Anna von Däniken gehört, einer Bauerntochter in Kestenholz. «Anna von Däniken war meine Mutter», sagt Margaretha Röthlisberger. Nachdenklich studiert sie die Spitzschrift-Zeilen mit den vereinzelten roten Korrekturen des Lehrers. Das Schriftbild in dunkler Tinte ist schön, regelmässig und sauber. «Meine Mutter hatte in späteren Jahren keine schöne Handschrift. Mit unserer modernen runden Schnürlischrift tat sie sich schwer. Nun realisiere ich, dass sie einfach in der alten deutschen Spitzschrift daheim war.»
So sehr war das der Fall, dass die Mutter ihrer Tochter Margaretha die Spitzschrift neben der Schule auf eigene Faust beibrachte. Dass die heute 84-jährige Rentnerin die deutsche Schrift verlernt hat, bedeutet für sie eine betrübliche Überraschung. Denn als der Vater ihr die Hefte nach dem Tod der Mutter im Herbst 1999 übergab, kam Margaretha Röthlisberger mit der Schrift noch gut zurecht. Das belegt das mehrseitige handschriftliche Transkript (Abschrift), das sie von den Texten im ersten Heft angefertigt hat (siehe Textprobe).
Damit ihr das zweite Schulheft nicht länger verschlossen bleibt, hofft Margaretha Röthlisberger auf Hilfe von kundiger Seite. «Für mich war das Aufsatzschreiben in der Schule mein bestes Fach», erinnert sie sich. Und: «Vielleicht interessieren sich ja noch andere Leute für die Texte.» Ein Fall fürs Stadtwiki also – und zumindest, was die originalen Schulhefte angeht, vielleicht auch für das Stadtarchiv.
Margaretha Röthlisberger ist in Bellach aufgewachsen und absolvierte eine Postlehre. Bei einem dreiwöchigen Einsatz auf der Post in Grenchen lernte sie ihren Mann kennen, der ausgehend von der Postlehre Kundenberater auf der Bank wurde und sich später als Berater auf der Beratungsstelle für Alkoholgefährdete einen Namen machte. «Ich war bis zur Heirat auf der ganz alten Post tätig. Das war die Vorgängerin dessen, was man heute als ‹alte Post› bezeichnet», erinnert sich die Seniorin.
Mit der Hochzeit kam im Banne der Vermeidung von «Doppelverdienertum», wie das damals hiess, automatisch die Kündigung. Doch das hinderte Margaretha Röthlisberger nicht daran, als sie bereits Mutter war, auf informeller Basis beim Aufbau der Schmelzi-Poststelle zu helfen. Mit verschmitztem Lächeln blickt sie zurück.
Dass neben den beiden Schulheften kaum Andenken aus der Kindheit ihrer Eltern und Schwiegereltern erhalten geblieben sind, hat (neben einigen Entrümpelungsaktionen) mit dem Brand ihres damaligen Hauses zu tun. Das Feuer im Dachstock des Elternhauses von Margaretha Röthlisbergers verstorbenem Mann an der Friedhofstrasse sei von einem Buben gelegt worden, der auf seine Probleme habe aufmerksam machen wollte, erzählt sie. All das liege viele Jahre zurück. Immerhin seien seit ihrem Umzug von der Friedhofstrasse an die Schützengasse auch schon zehn Jahre vergangen.
Die Themen im ersten Aufsatzheft sind so verschieden wie die Lebenserfahrung der jungen Kestenholzer Bauerntochter. «Unsere Hausvögel» beschreibt die Nützlichkeit und Schädlichkeit von Hühnern, Enten und Co. «Ein Spaziergang» besingt die Fruchtbarkeit im Gemüseacker im Mai, «Ein Strafgericht Gottes» rechnet mit einem Geizhals ab und «Die Posaune des Gerichts» beschreibt einen Mord.
Zwischen den Aufsätzen findet sich ein Brief an eine nicht namentlich genannte Freundin, und dort geht es um eine echte Tragödie (hier im Wortlaut): «Kestenholz, den 3. Juli 1917 – Liebe Freundin! In Deinem letzten Brief hast Du mir von einem fröhlichen Ereignisse erzählt und mich gebeten, Dir auch einmal zu schreiben. Nun will ich heute Dir nicht von einem fröhlichen, sondern einem traurigen Vorfall erzählen.
Gestern Nachmittag, etwa um 3 Uhr, zog ein schreckliches Gewitter heran. Unsere Nachbarfamilie war in der dumpfen Stube versammelt und sie erzählten einander vom nächsten Feiertag. Während sie redeten, wurde die Stube ganz hell, denn ein Blitzstrahl zog durch das Häuschen und traf alle vier Personen. Das ganze Dorf hat Mitleid mit der braven Familie. Nun sind sie im Tod wieder vereint. Am nächsten Donnerstag werden sie neben einander beerdigt. Wir hoffen, Gott möge uns vor einem solchen Unglück beschützen. Komme an der Beerdigung auch zu uns. Es grüsst Dich – Anna von Däniken.» (dd)