Die Schneefälle sind in Grenchen häufiger und stärker als anderswo. Ein Meteorologe erforschte die speziellen Rahmenbedingungen am Jurasüdfuss.
Wenn dieses Wochenende die Eisheiligen vorüber sind, sollte es endlich Frühling werden. Und doch: Der nächste Winter kommt bestimmt. Was Einheimische schon längst vermuten und Pendler immer wieder feststellen: Wenn es zu schneien beginnt, schneit es oft in Grenchen mehr und länger als anderswo. Die nur 10 Kilometer entfernte Stadt Biel beispielsweise verzeichnet regelmässig bedeutend weniger Schnee als Grenchen.
«Das Phänomen der Starkschneefälle entlang dem Solothurner Jurasüdfuss ist ausserhalb der Region kaum bekannt und schafft es höchstens in die regionalen Schlagzeilen. Man würde es auch kaum glauben, dass in einem Streifen von knapp 30 Kilometern Länge und auf einer Meereshöhe von knapp 500 Metern, an der Grenze zum klimatisch begünstigten 3-Seen-Land, immer wieder Lagen mit Starkschneefällen auftreten.» So schreibt der Meteorologe Andreas Hostettler im Vorwort seiner Abschlussarbeit im Rahmen der Weiterbildung «Professionelle Flugwetterprognosen» der ZHAW Winterthur.
Hostettler, der bei Meteo Schweiz im Analyse- und Prognosezentrum Zürich-Flughafen arbeitet, war schon länger fasziniert von der Tatsache, dass in der Region zwischen Grenchen, Solothurn und Oensingen immer wieder Starkschneefälle verzeichnet werden, die im klimatologischen gesamtschweizerischen Kontext einzigartig sind. Ein «kleines, feines meteorologisches Phänomen», wie er es nennt.
Das in seiner Arbeit erforschte Gebiet liegt am Südrand der ersten Kette des Solothurner Juras und sei insbesondere bei kräftigen zyklonalen West- bis Südwestlagen niederschlagsbegünstigt. Im Winter kommt es dabei mit aufgleitenden Warmfronten immer wieder zu ergiebigen Schneefällen. Im Vergleich zu anderen Regionen des Mittellandes, aber auch des angrenzenden Juras seien die Schneefälle signifikant ergiebiger.
Grenchen in Front
Andreas Hostettler wertete die Top-Ten-Neuschneemessungen – mehr als 20 Zentimeter Neuschnee innerhalb von 24 Stunden – zwischen 1995 bis 2015 von Grenchen im Vergleich mit 23 anderen Stationen der Schweiz statistisch aus. Bis Ende Winter 2015 gab es genau 10 solcher Fälle, deutlich mehr als irgendwo sonst: In fünf der zehn Fälle hatte Grenchen
am meisten Schnee. Auch akkumuliert erreichen die Top-Ten-Neuschneemengen in Grenchen von 1995 bis 2015 den höchsten Wert, nämlich 263 Zentimeter, gefolgt von der Messstation Riedholz Wallierhof mit 227 Zentimetern. Im gleichen Zeitraum misst man in Bern beispielsweise nur gerade 97 Zentimeter. (om)
«In meiner Arbeit versuche ich, nebst der klimatologischen Eingrenzung des Phänomens, auch die entscheidenden Einflüsse für die Generierung dieser Starkschneefälle in der Region zu beschreiben», so Hostettler. Er stützt seine Arbeit auf eine zwanzigjährige Schneemessreihe aus Grenchen der Familie von Bernhard Eicher, die seit Ende 2011 auch für Meteo Schweiz systematische Schneemessungen erhebt.
Diese Messungen waren auch der Grund für Hostettlers Interesse: «Dank der Berichterstattung und systematischen Schneemessungen von Bernhard Eicher wurde ich schon vor Jahren auf das Phänomen der Schneefälle in der Region Grenchen aufmerksam. Die Berichte und Bilder reizten mich als Schneefan, dieses kaum bekannte Phänomen näher zu untersuchen. Dies umso mehr, als dass dieses Gebiet, mit Ausnahme der zähen Nebellagen und des Jorans, meteorologisch nicht weiter in Erscheinung tritt.»
Folgende Faktoren seien bei von Bedeutung, schreibt Hostettler: die regionale Topografie und das Relief des Geländes, nieder- und mitteltroposphärische Luftmassen, Luv- und Lee-Effekte, Kaltluftsee und Staueffekte, Windströmungen und Konvergenzen in unterschiedlichen Höhenlagen sowie die Niederschlagsbildung und -abkühlung. Er habe nicht auf all diese Faktoren und ihre Zusammenhänge detailliert eingehen können. «Das Zusammenspiel von Topografie, Strömungen und Luftmasseneigenschaften ist schlicht zu komplex und müsste in Bezug auf das Thema und die Region eingehender untersucht werden, um wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden.»
Anhand des Wochenendes vom 5. und 6. Dezember 2010 erklärt Hostettler die Wetterlage und die Voraussetzungen für Grenchen und unterlegt seine Arbeit mit zahlreichen Tabellen und Wetterkarten. Die damalige Wetterlage beschreibt Hostettler wie folgt: «Nach einer Winternacht mit Tiefstwerten von –6 bis –8° Celsius entwickelte sich auf Sonntag über den Alpen eine kräftige Föhnströmung: In der Höhe strich warme und trockene Föhnluft über die arktische Kaltluft, die in den Niederungen der Alpennordseite lagerte. Nicht nur der Föhn sorgte in den mittleren Schichten für eine kräftige Erwärmung, auch das Azorentief steuerte zunehmend warme und feuchte Luft aus Südwesten in die Schweiz, welche sich im Aufzug von dichten hohen Wolkenfeldern manifestierte – ein klassischer Warmfrontaufzug. In Grenchen setzten die ersten Schneefälle am Sonntag schon um die Mittagszeit, und somit deutlich früher als in den übrigen Regionen, ein. Nach diesem Auftakt gab es eine trockene Phase, bis ab 15.20 Uhr lang anhaltende und teilweise ergiebige Schneefälle einsetzten. Am 6. 12., um 3.50 Uhr, wurde nur noch schwacher Schneefall, und ab 4.20 Uhr Schneeregen und später Regen gemeldet.»
Es fielen innerhalb von 24 Stunden 31 Zentimeter Schnee in Grenchen. Nirgendwo sonst im Schweizer Mittelland fiel im gleichen Zeitraum gleichviel oder mehr Schnee. In Magglingen – immerhin etwas höher gelegen als Grenchen, waren es nur 10 Zentimeter, in Bern fielen 12 Zentimeter. Moutier im Jura verzeichnet keinen Neuschnee für dieses Wochenende. Kurze Zeit später, am Freitag, 17. Dezember, hatten die Einsatzkräfte erneut viel zu tun: Es begann schon in der Nacht zu schneien und es fielen 29 Zentimeter Neuschnee innerhalb von 24 Stunden. Erneut war Grenchen an der Spitze der Vergleichsstationen(siehe Kasten oben).
Topografie entscheidet
Die Topografie ist bei einer bestimmten und häufigen Wetterlage ausschlaggebend. Zur Topografie lasse sich zusammenfassend sagen, schreibt Hostettler, dass die Senke zwischen der steil ansteigenden 1. Jurakette und dem südlich gelegenen Hügelgebiet des Bucheggbergs die Bildung eines blockierten Kaltluftsees begünstigt. Und weil die Jurakette hier einen Bogen in ihrer Richtung macht – von Südwest Richtung Nordost zu West-Südwest nach Ost-Südost – werden die auffrischenden südwestlichen Bodenwinde abgeschwächt und die Durchmischung der Luft im Kaltluftsee verzögert oder gar verhindert. Im Bereich von Warmfronten werden sogenannte Aufgleitniederschläge durch die blockierte Kaltluft entlang der 1. Jurakette verstärkt und durch die verzögerte Auflösung des Kaltluftsees kommt es zu einem positiven Feedback-Mechanismus und damit zu einer verlängerten Phase der Isothermie-Schneefälle in der Region. Klimatologisch lasse sich festhalten, dass fünf der 10 Top-Ten-Neuschneemengen in Grenchen sich klar von einem Wetterregime West/Südwest mit aufziehenden Warmfronten und in der Folge kräftigen Aufgleitschneefällen ableiten lassen. (om)