Startseite
Solothurn
Grenchen
Gastbeitrag zum viel gescholtenen Dok-Film über die Globalisierungsängste in Grenchen.
Schweigende Mehrheit – Nabelschau in Grenchen» – so ist der DOK-Film des Schweizer Fernsehens betitelt, der einigen Staub aufwarf. Tatsächlich findet sich die am Fall «Grenchen» dargestellte «Schweigende Mehrheit» überall. Die Stimmbeteiligung nimmt überall ab. Das Desinteresse an der Politik grassiert nicht nur in Grenchen. Und nicht nur in Grenchen fühlen sich die Menschen als Opfer einer im Zeichen des Neoliberalismus einzig auf ökonomische Aspekte ausgerichteten Globalisierung – und wollen, zumindest solang es noch möglich ist, ihren individuellen, oft bescheidenen Wohlstand geniessen.
Dass dieses Glück in den Schrebergärten gefunden wird, erstaunt nicht. Die energische Förderung der «Pflanzplätze» war seit je ein besonderes Anliegen der Solothurner Industriellen, die gezielt die Entwicklung von Industriedörfern unterstützten, um Proteste der Arbeiterschaft zu unterbinden: Wer mit der Scholle verbunden ist, der neigt zur Mässigung und zur Duldsamkeit.
Und doch weist Grenchen im Rahmen dieser Entwicklung Eigenschaften auf, welche die Stadt hervorheben. In historischer Perspektive zeigt sich dies besonders gut: Da ist einerseits eine seit beinahe einem Jahrhundert bestehende enge Zusammenarbeit zwischen den politisch unterschiedlichen Lagern; härtere politische Auseinandersetzungen sind verpönt. Klassen gab es – wie auch sonst im Kanton – kaum. Patron und Arbeiter waren sich nahe. Es waren eher Stände, die auf einer traditionellen Zugehörigkeit zu der jeweiligen Gesellschaftsschicht gründeten: den Arbeitern, dem Gewerbe, den Bauern und den Unternehmern.
Ein anständiger Umgang untereinander war das Kennzeichen dieser Gesellschaft. Ordentlich – und präzis wie die von ihnen auf hohem technischen Niveau hergestellten Uhren – protestierten die Angestellten der Uhrenindustrie am Tag der Arbeit: Die freisinnige Musikgesellschaft führte jeweils den 1.-Mai-Umzug an. Der Patron der ASSA, Adolf Schild, nahm die Parade der Arbeiter vor seiner Villa ab.
Alle waren gemeinsam eine grosse Familie, in der jeder seine Rolle hatte. Das wirkte sich auch politisch aus, wie der Schriftsteller Peter Bichsel schreibt: «Die Geschichte der SP in diesem Kanton ist die Geschichte der FdP. Dem Widerstand gegenüber der Macht folgt immer wieder das Arrangement mit der Macht, und das Arrangement mit der Macht war das Streben nach Salonfähigkeit, und im Salon sind jene geduldet, die sich anständig verhalten, und der Anstand ist freisinnig.» Angesichts der als Folge der Globalisierung zunehmend enger gewordenen politischen Handlungsspielräume sowie der traditionell eher alternativlosen Politik verkommen demokratische Prozesse zunehmend zur Folklore – es sei denn, man ist gewillt, für das Ausscheren von der vorgegebenen Normalität einen entsprechenden Preis zu bezahlen.
Grenchen mit seiner auf industrielle Massenproduktion ausgelegten Uhrenindustrie war ein Vorreiter dieser Entwicklung: Noch bevor das Friedensabkommen 1937 abgeschlossen wurde, war bereits sechs Jahre früher, 1931, die ASUAG unter der Federführung der Banken, der Grenchner Patrons und unter Anteilnahme der Gewerkschaften gegründet worden.
Die ASUAG war eine Holding-Gesellschaft, in deren Verwaltungsrat Patrons, die Banken, aber auch Gewerkschaftsfunktionäre sassen. Damit wurde Grenchen zu einem frühen Zentrum des Arbeitsfriedens und des damit verbundenen, die Beziehung der Patrons untereinander regelnden Uhren-Kartells. Unter diesen Rahmenbedingungen gab es Investitionssicherheit sowie die Hingabe der Arbeiterschaft an ihre Aufgaben. Reichtum wurde geschaffen, der allen ein gedeihliches Leben ermöglichte.
Mit dem allmählichen Zerfall dieser geregelten Welt unter dem Druck von Konsum und Markt sowie der technischen Entwicklung zerfiel auch die Wertschätzung der Grenchner Eigenschaften wie Präzision und Zuverlässigkeit. Das Bündnis zwischen Arbeiter und Patron zerfiel. Industrielle Tätigkeiten wurden ausgelagert. Für die lukrativen, wendigeren Tätigkeiten des Dienstleistungssektors fehlte der entsprechende Boden in Grenchen.
So ist es bezeichnend, dass etwa die schweizerischen Grossbanken die Rettung der schweizerischen Uhrenindustrie nach der sogenannten «Quarzkrise» nicht dem Sanierer und eigentlichen Pionier der Entwicklung der Swatch, Ernst Thomke, sondern dem gewieften Händler und geborenen Verkäufer Nicolas Hayek anvertrauten. Die attraktivsten Abteilungen des Unternehmens verschwanden aus Grenchen. Die Gewerkschaften hatten nichts mehr zu sagen. Das Bündnis zwischen dem Kapital und den Arbeitern zerfiel. Dass aber angesichts der schwierigen Entwicklung nun der Überbringer der schlechten Nachricht – die Regisseurin des DOK-Filmes – geprügelt werden soll und nicht die Diskussion um die zeitgemäss vorhandenen Schwächen geführt wird, stimmt wenig zuversichtlich.
* Der Autor ist Sozial- und Wirtschaftshistoriker. Er ist im Kanton Solothurn geboren und hat sich intensiv mit der Solothurner Wirtschaftsgeschichte auseinandergesetzt, zuletzt als Mitautor an der soeben erschienenen Kantonsgeschichte im 20. Jahrhundert.