Wahlkampf in Grenchen
Wahl und Wahrnehmung haben in Grenchen zwei Gesichter

«Die Nordwestschweiz» hat sich in Grenchen kurz vor der Entscheidung ums Stadtpräsidium umgeschaut – oder: Wo eine Stadt anders tickt, als wie sie ausschaut.

Max Dohner
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 Depression schaut anders aus: Ladennachbarn Georg Lehmann und Toni Roggo (links) an der Bielstrasse.
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Bilderreportage aus Grenchen
 Im Hôtel de ville wird regiert
 Die schöne Einbettung: Rasch legen einem Grenchner ans Herz, rauszugehen und Höhe anzustreben.
 Die blaue Berta
 Das Centro

Depression schaut anders aus: Ladennachbarn Georg Lehmann und Toni Roggo (links) an der Bielstrasse.

Annika Bütschi

Was ist das in Grenchen? Eine Wahrnehmungs-Verzerrung?

Von einem jungen Grenchner bekamen wir, sozusagen als Aufmunterung, einen Klaps auf die Schulter, ehe wir nach Grenchen fuhren: «Grüss mir die Perle vom Jurasüdfuss!» Der Gute ist nicht heimweh-krank. Er hat nur einfach eine lebhafte Jugend gehabt in Grenchen. Und das trübt, wie überall, nicht unbedingt die Sicht der Dinge, macht sie aber gestalten- und farbenreicher. Denn eigentlich ist der erste Eindruck nüchterner Besucher an Ort und Stelle eher Ratlosigkeit, visuelles Waisentum, Beklemmung.

Was also ist los mit den Grenchnern? Haben sie andere Augen im Kopf oder ein anderes Bild vor Augen? Wohl kaum. Denn alle sagen uns im Lauf einer Plauderei oder eines Gesprächs auf Grenchens Strassen und Plätzen: «Geht raus! Zum Beispiel hoch auf die Berge! Da seht ihr, wie fantastisch es hier ist.»

Wohl dem Ort, den man weiträumig erkunden kann, um von seiner Einbettung überwältigt zu werden (was wir oben dann tatsächlich waren). Sonderbar aber auch der Ort, der Besuchern relativ dringlich ans Herz legen muss, einer Stadt zum Besten aller ins Grüne zu entfliehen.

Wieder mal ist Grenchen in aller Munde, weit über die Uhrenstadt hinaus. Der heftige, zeitweise gar hässliche Wahlkampf zwischen Boris Banga, 22 Jahre im Amt, und seinem Herausforderer François Scheidegger nehmen viele zur Kenntnis, als könnte man aus einem Ort, der so gebaut ist, nichts anderes erwarten. Als wirke hier alles unharmonischer; also spiegle sich das – schon fast natürlich – auch im politischen Leben.

Dies allem Um- und Aufschwung zum Trotz. Entgegen aller Zeichen einer neuen Blüte, deren Zustand aber noch immer nicht porentief blütenfrisch wirkt, noch immer nicht ganz frei vom Gefühl einer Scheinblüte. Bilder in den Köpfen sind eben schwieriger zu ändern. Da war man auf Umschwungkurs in Grenchen, bestätigt vom Wakker-Preis und vom Zuzug namhafter Firmen, jüngst auch vom Velodrom. Trotzdem ist Grenchen, man muss es unumwunden sagen, nach wie vor ein eher unansehnliches Gebilde geblieben.

Die Stadt sei «noch nicht gebaut», sagt Boris Banga. Gebaut zwar, aber nach welcher Idee gebaut? Ideen tun not, so geht hier der Eindruck. Auch das kann ein Flair wecken für unausgeschöpfte Möglichkeiten.

Grenchen wirkt wie ein gebautes Bilderbuch der letzten fünf Jahrzehnte. Beispielhaft fürs ganze Mittelland, vielleicht gar für die Schweiz, um da die Illusionen, die Trunkenheit vorübergehenden Booms und die mühseligen Korrekturen seither zu studieren. Wie hat sich ein bäurisch geprägtes Land vor allem in der Nachkriegszeit gewandelt?

Dafür liefert Grenchen Anschauungsunterricht. So kompakt ist das sonst vielleicht nur noch in Emmen bei Luzern zu erleben. Zum architektonischen Mischmasch der Stile, den selbst «wild» zu nennen eine Art Beschönigung ist, gibt’s sonst kaum Vergleichbares. Auch so etwas gelangt in den Rang eines Unikats.

Exemplarisch ist die zweite Station, die unbedingt zu besuchen uns nahegelegt wurde: der Marktplatz. Nach der Überquerung der ehemaligen Durchfahrtsschneise, heute eine «Begegnungspassage», stehen wir auf dem besagten Platz, einmal mehr mit dem irritierenden Gefühl, nicht richtig zu liegen. Ein «Bijou»?

«Ja», bestätigt ein älterer Passant und lächelt sarkastisch: «Das ist die Tankstelle.» Wir aber wollten zum Marktplatz ... «Nun, so nennt das der Volksmund», sagt der Mann, «wegen der klobigen Dachkonstruktion dort. Es fehlen nur die Zapfsäulen, das Kassahäuschen und die Schläuche.»

Einen «Schlauchomat» finden wir hingegen an der Bielstrasse, für uns eine Kuriosität. Elf Franken kostet das Stück. Der Besitzer des zugehörigen Bikerladens «hyperspace» kommt heraus, um nachzusehen, warum wir da Notizen machen.

Toni Roggo ist seit 1986 hier. Er wohnt auch in Grenchen. Will er einen Wechsel im Stadthaus? Für wen bekennt er sich: Scheidegger oder Banga? Auf diese binäre Frage scheint sich das politische Leben Grenchens ja einzig zu konzentrieren. Nun aber hören wir noch eine überraschende, dritte Möglichkeit: «Ja», sagt Roggo, «ich bin für einen Wechsel.»

In Roggos Nachbarladen, ein Kopiergeschäft, sitzt seit 42 Jahren der Reprograf aus Bettlach, Georg Lehmann. Also einer, der noch von der Zeit erzählen kann, als Banga noch nicht regierte – es gibt ja eine Vielzahl erwachsener Grenchner, die nie etwas anderes kannten als Stapi Boris. «Früher», sagt Lehmann, «waren hier rundum Uhrenläden, Möbelgeschäfte, Versicherungen, mit viel Laufkundschaft.» Heute würden Kunden naher Rotlichtklubs ihre Wagen vor seinem Geschäft parkieren, damit sie nicht auffielen.

Lehmann ist für Banga. Seit eine Frau bei ihm kopieren wollte, aber sagte: «Das ist mir zu teuer. Im Stadthaus kann ich das gratis machen.» Banga kam das zu Ohren – und der «Wettbewerbsnachteil» des langjährigen Gewerblers verschwand.

In grosser Munterkeit beschreiben die beiden solcherart das Grenchner Leben. In ähnlich widersprüchlicher Weise, wie das Ganze ausschaut. Die beiden, offensichtlich sehr vertraute Kumpel, reden davon, wie in Grenchen «jeder dem anderen an den Schinken schifft». Weil hier kein Zusammenhalt herrsche. Aber der eine räumt vor dem Laden des Kumpels schon mal ekligen Unrat weg. «Wer zahlt hier in zehn Jahren noch Steuern?», fragen sie trübsinnig und bestreiten die Fotosession gerade anschliessend trotz kaltem Regen höchst übermütig – Depression schaut jedenfalls anders aus.

Eine klare Ansicht vertritt auch Bruno Huber, der als «Meckerer von Grenchen» und Leserbrief-Schreiber den Status eines «Originals» erreichte. Er, seit fünfzig Jahren hier ansässig und immer noch kein erklärter Grenchner, sagt zur örtlichen Mentalität: «Man kann nicht Grenchner werden, man wird als Grenchner geboren.» Huber wünscht sich einen Wechsel: «Eine andere Führungskultur muss Einzug halten.» Er sehe zwar «die gute industrielle Entwicklung». Doch anders als beim Sport, mit Zugpferd Velosport, sagt Huber, der unlängst als «das sportliche Gewissen des Kantons Solothurn» ausgezeichnet wurde, «liegt beim Breitensport noch viel im Argen.»