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Es ist fast ein Schämer: Da taucht das Lichtlein am Ende des Corona-Tunnels auf, und ich sprinte nicht einmal los. Kann es sein, dass ich die Isolation verinnerlicht und verlernt habe, wie man unter Leute geht? Aber nur Gartencenter oder Hornbach ist so langweilig, und jeden Tag Haare schneiden wird teuer und gibt eine Glatze. Was nun? Ganz einfach: Gibt die Gegenwart nicht genug her, reise ich in die Vergangenheit. Ich platziere mich vor den Südbahnhof, stelle wie Marty McFly die Ziffern meines imaginären DeLorean auf 02 05 1870 und komme, puff! 150 Jahre früher wieder heraus: den Body auf den Strassen von 2020, den Geist im Jahr 1870. Als erstes sehe ich die Villa von Doktor Girard selig, der 1869 nach kurzer Krankheit gestorben ist. Immerhin hätte er sich sicher gefreut, dass seine Villa 2020 Kunst beheimatet. Ich wandere die Bahnhofstrasse hoch, dankbar, dass mein Body im Jahr 2020 wandelt: 1870 war die Strasse weder geschottert noch asphaltiert. So arbeite ich mich wacker hoch zum Löwen, Hauptquartier der Grenchner Radikalen, und ziehe die Kirchstrasse hoch bis zur Villa von Adolf Schild. 1874 wird er mit seiner Frau Pauline einziehen, und 2020 findet eine Wohngemeinschaft der Stiftung Schmelzi hier vorübergehend ein Heim.
Ich ziehe weiter nordwärts, biege rechts ab und passiere die Quartierstrasse 17, Zuhause von Bezirkslehrer Urs Josef Feremutsch. 150 Jahre später wird hier ein pensionierter Vollblutlehrer residieren, der mit E-Bike und neongrünem Helm die Stadt unsicher macht. Weiter geht’s zur Mühlestrasse und zum schmucken Haus in der Gabelung zum Oelirain: Die Untere Mühle, Geburtshaus von Pauline Schild. Hier wird sich in den nächsten hundert Jahren das ASSA-Dorf ausbreiten, bevor die Uhrenkrise alles zum Einsturz bringt. Ich steige auf in die Schmelzi, biege links in die Allerheiligenstrasse ein und wandere westwärts bis zum Brücklein, das den Weg freigibt ins Bachtelentäli und auf die Gebäude des Knabeninstituts Breidenstein, wo 150 Jahre später das Kinderheim Bachtelen die pädagogische Tradition des Herrn Breidenstein fortführt.
Doch weiter bergan: Langsam taucht die grüne Spitze des Chappeli vor meinen Augen auf, und schon stehe ich vor dem Gotteshäuschen. Ich gönne mir eine Verschnaufpause und denke daran, dass man hier einst die Holbein-Madonna entdeckte, die sich dann die bösen Solothurner krallten. Zufrieden kehre ich heim und freue mich, dass ich bei der nächsten Wanderung – dann auch geistig in der Gegenwart – der Kapelle einen Innenbesuch abstatten und meine Wanderung hoffentlich mit einem Dessert im Restaurant abschliessen kann.
Gluschtig gemacht auf Grenchens Wurzeln, werde ich vielleicht auch im Kulturhistorischen Museum vorbeigehen, das seit gestern unter neuer Leitung steht. Farewell, Angela Kummer, herzlich willkommen, Marco Kropf! Apropos: Wäre es nicht ein toller Start für den neuen Chef, wenn wir die eventlose Zeit für einen Streifzug durch unsere Vergangenheit nutzen würden? Dabei könnten wir nebenbei lernen, dass wir Grenchner schon immer ein resilientes Völklein waren, dass das Beste aus allem gemacht hat. In diesem Sinne: Auf die Zukunft!