Porträt
Vom Rand der Gesellschaft zurück ins Leben

Jahrelang hat Roger Aerni vegetiert, sich mit Jobs über Wasser gehalten. Er wurde ausgegrenzt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Jetzt hat er gute Karten gezogen, hat sich aufgerappelt und ist zurückgekehrt.

Daniel Trummer
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Roger Aerni hat eine Arbeit gefunden, die (zu) ihm passt. tru

Roger Aerni hat eine Arbeit gefunden, die (zu) ihm passt. tru

Solothurner Zeitung

Roger Aernis Leistungsfähigkeit mag eingeschränkt sein, pünktlich, hilfsbereit und verantwortungsbewusst ist er dennoch. Ungeahnte Fähigkeiten kommen bei seiner neuen Arbeit in der «Metzgerhalle» zum Vorschein. Er steht im Keller, in dem Harass sind Spirituosen und Wein. Er löscht das Licht im Kellerraum und schleppt die Flaschen die enge Treppe empor. Schnaufend bleibt er einen Augenblick stehen, schliesst die Türe und bringt den Behälter ins Restaurant. Er räumt die Flaschen ins richtige Regal, streckt sich und wendet sich einer andern Aufgabe zu.

Solche Arbeiten kennt Roger Aerni aus dem Effeff. Nach seiner Schulzeit machte er eine Anlehre als Koch und war bis in die frühen 80er-Jahre als Küchengehilfe im Emmental tätig. 2007 ist er zu seinem Beruf zurückgekehrt. Seit da arbeitet er in Restaurants in Grenchen und dessen Umgebung. Mit Mutter, Stiefvater und vier Halbgeschwistern verlebte Roger Aerni seine Kinderjahre im Grenzort Castasegna im Bergell. Die deutsche Muttersprache und die italienischsprachige Einschulung in der Primarschule im haben bis heute Spuren hinterlassen. «Beim Schreiben mache ich viele Fehler», erzählt der 56-Jährige und lächelt etwas verlegen.

«Freunde habe ich keine», gibt Aerni ohne Emotionen bekannt. Es fallen ihm aber doch noch zwei, drei Namen von Kollegen ein, denen er vertraut, und die er als Freunde bezeichnen will. Dann erzählt er von seinen Gefühlen an einem Dezembertag im Jahre 2006 – eben hatte er vom Tod seines Freundes Hasi erfahren. «Ich habe geweint wie ein Schlosshund», erinnert er sich. Jahrelang war er mit ihm frühmorgens unterwegs und hat sich im «Passage» eine Flasche Bier genehmigt. Hasi pflegte an der Beundengasse, wo Aerni damals wohnte, durch die Finger zu pfeifen und lud ihn so zum Morgenspaziergang ein. «Manchmal höre ich seinen Pfiff noch heute», berichtet er. Dann stehe er früh auf und geht in seinem eigenen breiten, etwas schleppenden Gang in die Stadt.

Krank, aber glücklich

Der eher schmächtige Mann leidet an einer seltenen Krankheit: Neurofibromatose – eine vererbte Multiorganerkrankung, die vor allem das Haut- und Nervensystem betrifft. Sichtbar sind Pusteln, die sogenannten Neurofibrome, die als gutartige Tumoren bezeichnet werden. Die Generkrankung ist nicht ansteckend, aber «natürlich führt dies zu sozialen Einschränkungen», gibt sich Aernis Hausarzt überzeugt. Auch sein jetziger Arbeitgeber weiss: «Es gibt schon einige böse Mäuler von nicht bösen Menschen, die Roger Aerni deswegen ausgrenzen wollen». Seit Monaten arbeitet Aerni stundenweise und zur vollen Zufriedenheit bei ihm .

Roger Aerni hat sich in den letzten Monaten verändert. Sein struppiger Bart ist gestutzt, und er kleidet sich sorgfältiger als früher. «Ich lebe mein Leben», erklärt Aerni, der sich über Vorurteile nicht stören mag. «Die Stammgäste am Arbeitsplatz akzeptieren mich, und das macht mich glücklich.» Während 12 Jahren hat er als Betriebsmitarbeiter bei der ehemaligen Emmental-Burgdorf-Thun Bahn gearbeitet. Das Generalabonnement war für Aerni damals ein Segen. Er hat Ausflüge unternommen, seine bündnerische Heimat besucht, war in Chur und Zürich. Aerni spricht in kurzen Sätzen, manchmal undeutlich, gelegentliche Hustenanfälle unterbrechen ihn. «Zwei Wünsche habe ich noch», lässt er sich in die Karten blicken und schmunzelt. Ein paar Tage Ferien im Bündnerland will er sich noch einmal leisten und auch ein Oberkrainerkonzert in der Bierhalle Wolf im Zürcher Niederdorf geniessen.