Grenchen
Urs Wirth über seine Zeit als Vize-Stapi: «Der Stadt verpflichtet, nicht der Partei»

Grenchens Vize-Stadtpräsident war 20 Jahre lang auf Gemeinde- und Kantonsebene politisch aktiv. Ein Blick zurück auf Hoch- und Tiefpunkte eines profilierten Lokalpolitikers.

Andreas Toggweiler
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Urs Wirth hat während 20 Jahren in und für Grenchen politisiert.

Urs Wirth hat während 20 Jahren in und für Grenchen politisiert.

Oliver Menge

Als Vize-Stadtpräsident wären Sie bestimmt wieder gewählt worden. Warum hören Sie gerade jetzt auf?

Urs Wirth: Ich war jetzt 20 Jahre Gemeinderat in mehreren Funktionen und 8 Jahre Kantonsrat. Nach so langer Zeit möchte ich den Platz frei machen für, junge und unverbrauchte Leute mit neuen, kreativen Ideen. Deshalb habe ich bereits im Januar 2015 meine diversen Rücktritte aus Vereinen, Stiftungen und Politik per Mail angekündigt. Das hatte den Vorteil, dass man überall genügend Zeit hatte, sich personell ohne mich zu organisieren. Ein weiterer Vorteil der frühen Ankündigung zeigte sich aber auch in der Akzeptanz meines Entschlusses und in der Verbindlichkeit für mich selbst. Es gab so auch für mich kein Zurück mehr. Schliesslich möchte ich doch noch bis zum Erreichen meines Pensionsalters über genügend Kraft und Motivation verfügen, mich um meine Schule kümmern zu können. Das kann ich aber nur, wenn ich meine Kräfte künftig auf diese konzentriere.

Zur Person

Doyen der Grenchner Politik

Urs Wirth (61) hat als Pädagoge etliche Dossiers aus dem Schulbereich entscheidend mitgeprägt, so als Kantonsrat die Einführung von geleiteten Schulen oder die Kantonalisierung der Sonderpädagogik. Auch für die Schaffung des kantonalen Sozialpreieses hat sich Wirth eingesetzt.

Auf Gemeindebene forcierte er das neue Schulleitungsmodell, die Frühförderung und den Vorkindergarten. Auch für das Stadtbild in Grenchen und in Verkehrsfragen hat sich Wirth engagiert, so beim Zytplatz, der Überarbeitung der Autobahneinfahrt («Knochen-Kreisel») oder dem Skaterpark. Mit Urs Wirths gleichzeitigen Rücktritt als aktiver Fasnächtler verliert die Stadt auch einen begnadeten Schnitzelbänkler. (at)

Was hat sich aus ihrer Sicht in den letzten 20 Jahren verändert in der Politik?

Die Mittel und die damit verbundene Grundstimmung. Visionäre, pionierhafte und mutige Entscheide sind heute leider fast nicht mehr möglich. Zu stark muss das Vorhandene und Erreichte verteidigt werden. Der Spardruck steigt, die Aufgabenbelastung und Ablastungen durch Bund und Kanton steigen, während der Solidaritätsgedanke in der Bevölkerung zunehmend schwindet. Das drückt auch belastend auf die politische Grundstimmung und gibt Raum für neue ideologische Auseinandersetzungen. Leider hat da auch unser Kanton in den letzten Jahren mit der Zentralisierung diverser Ämter nach Solothurn und dem Umgang mit einer Randregion wie Grenchen seinen Teil dazu beigetragen.

Haben Sie auch ein konkretes Beispiel?

Mehr als eines. Es ist ein Skandal, dass wir als zweitgrösste Stadt mit dem höchsten Anteil an Arbeitslosen und Ausländern kein eigenes RAV haben. Oder: sind wir arbeitslos, spitalbedürftig oder wollen einen neuen Pass, möchten ein Geschäft eröffnen oder nur schon heiraten, müssen wir nach Solothurn pilgern. Sogar eine Pistenanpassung hat der Kanton verweigert. Offenbar hat er vergessen, dass ein Flughafen als Faktor für den Wirtschaftsstandort für Stadt und Region Grenchen und damit aber auch für den Kanton von entscheidender Bedeutung ist.

Sie waren Gemeinderat, Kantonsrat, GRK-Mitglied. Würden Sie heute nochmals in die Politik einsteigen?

Unbedingt. Ein politisches Engagement lässt einen viel fundierteren Blick in die Aufgabenfelder, Zusammenhänge und Abläufe zu. Man versteht plötzlich, warum jetzt da und dort nicht gemäss Stammtischgesprächen einfach so gehandelt werden kann. Man versteht die Komplexität der Zusammenhänge. Aber auch die Erweiterung des persönlichen Netzwerks und des Freundeskreises sind unbezahlbare Nebenprodukte der politischen Arbeit. Zudem gehört es wohl zu den ehrenhaftesten Aufgaben, sich stellvertretend für das Wohl der Bevölkerung engagieren zu können.

In Grenchen wird die Stimmbeteiligung beklagt. Müssen wir damit leben?

Ich masse mir nicht an, die hohe Stimmabstinenz der Grenchnerinnen und Grenchner zu erklären. Ob es daran liegt, dass die persönliche Unzufriedenheit oder gar die Schmerzgrenze noch nicht erreicht wurde, kann ich lediglich vermuten. Tatsache ist, dass leider das Interesse an der Gemeindepolitik nicht mehr sehr gross ist. Man ist zwar gerne Teil davon aber Hauptsache man wird in Ruhe gelassen und kann es sich gut gehen lassen. Dieser Haltung begegnet man leider allzuoft.

Andernorts werden die Leute mit Attraktionen oder Aperos an die Gemeindeversammlung gelockt...

Das wäre lediglich eine Symptombekämpfung. Wichtig wäre, das politische Interesse an sich wieder zu wecken.

Ein Aufgabe für die Schule?

(lacht) ... die ja immer auf der Suche ist nach neuen Aufgaben. Nein, im Ernst: Ich glaube kaum, dass das Interesse allein durch Staatskunde-Unterricht geweckt werden kann. Aber wenn im Elternhaus wieder über Politik gesprochen würde, wäre schon viel erreicht. Wir füllen bei uns zuhause die Abstimmungsunterlagen immer gemeinsam aus und darob ergaben sich oft sehr interessante Diskussionen.

Wohl als einzige Stadt ist Grenchen bürgerlicher geworden. Woran liegt das?

Der Wechsel im Stadtpräsidium täuscht vielleicht darüber hinweg, dass der Gemeinderat auch während den über hundert Jahren mit sozialdemokratischen Stadtpräsidenten stets durch die bürgerlichen Parteien dominiert war und ist. Sie hatten immer die Mehrheit im Gemeinderat, mit einer kurzen Ausnahme. Als einzelner Gemeinderat ist man ja per Eid grundsätzlich den Interessen der Stadt und nicht der Partei verpflichtet – wenigstens sollte man es-.

In ihrer Partei wird jetzt wieder der Politstil diskutiert. Ist die SP tatsächlich zu zahm geworden?

Diese Frage muss der Parteivorstand beantworten. Ich kann hier nur meine persönliche Haltung darlegen. Nach der Übernahme des Stadtpräsidiums durch den bürgerlichen Stapi überlegte man sich, ob man als Partei in die Opposition gehen soll. Das hätte in letzter Konsequenz auch dazu geführt, dass die SP sich auch aus allen Kommissionen verabschiedet hätte. Ich war immer der Meinung, dass man nun eine konstruktive Vorwärtsstrategie fahren müsste. Zudem war ich ja bereits von meiner Funktion als Vize dieser Haltung verpflichtet. Selbstverständlich konnte ich aber auch in dieser Funktion die Anliegen unserer Partei einbringen und mitunter auch durchsetzen.

Wie soll es in der SP weitergehen?

Was unsere Stadt definitiv nicht braucht sind politische Grabenkämpfe und hinterhältige Politaktionen. Was wir aber unbedingt brauchen sind Mut, Vertrauen, Visionen, Pioniergeist, Zukunftsglauben und ein selbstbewusstes Einstehen. Krieg produziert nur Verlierer. In diesem Sinn könnte man «zahm» ja auch durch überlegt, dialogbereit und konstruktiv ersetzen. Die Partei hat jetzt die Gelegenheit, sich neu auszurichten und zu positionieren.

Was waren Ihre schönsten Momente und die schwierigsten als Politiker?

Meine schönste Zeit war zugleich meine intensivste: die letzten vier Jahre in meiner Funktion als Vize-Stadtpräsident. Der Stapi und ich hatten eine sehr intensive, gute und enge Zusammenarbeit. Vieles wurde gemeinsam besprochen oder erarbeitet. Man muss sich aber als Vize bewusst sein, dass man halt schon nur die zweite Garnitur ist.

Woran merkt man das?

Nur ein Müsterchen: Nahm man als Stellvertreter des Stadtpräsidenten an einem Anlass teil, wurde man zwar herzlich begrüsst, im Unterton oder gar ausgesprochen vernahm ich aber dann schon die Erwartung, dass das nächste mal doch der Stapi persönlich erscheinen solle.
Interessant ist natürlich auch die Analyse des Erreichten nach zwanzig Jahren Politik im Kanton und in der Gemeinde. Aber damit will ich mich nicht brüsten denn die Entscheidungen fielen immer im Kollektiv und sind damit das Werk des Gemeinderates und nicht einer einzelnen Person. Zu den weniger schönen Zeiten gehören die politischen Querelen in der Ära vor François Scheidegger.