Grenchen
Ticket aus der Krise: Wie Künstler mit Hilfe von Arbeitslosen Kunstwerke realisierten

Das Netzwerk Grenchen und Künstler trafen sich im Kultur-Historischen Museum zum Erfahrungsaustausch.

Daniela Deck
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Die Skulptur «Tag und Nacht» von Marc Reist an der Lindenstrasse – hier wird man entschleunigt.

Die Skulptur «Tag und Nacht» von Marc Reist an der Lindenstrasse – hier wird man entschleunigt.

Oliver Menge

«Jeder wurde als Fachmann angesprochen und nicht als Hilfsbedürftiger. Das war das Geheimnis.» Die Künstler Ueli Studer und Marc Reist trafen sich mit dem Leiter des Netzwerks Grenchen, Reto Kämpfer, im Kultur-Historischen Museum, um Erfahrungen auszutauschen, wie Menschen aus Lebenskrisen und besonders aus der Erwerbslosigkeit herausfinden. Moderiert wurde das gut besuchte Podiumsgespräch von Rainer W. Walter.

Grenchen als «krisenerprobte Stadt», wie Reto Kämpfer es nannte, hat eine Menge Erkenntnisse über Wege aus Krisen weiterzugeben. Kein Abschnitt der Stadtgeschichte war so schwierig, wie die Uhrenkrise der 80er- und 90er-Jahre, und da kommen die Künstler ins Spiel. Sie hatten vor rund 25 Jahren die Idee, mit Unterstützung von Erwerbslosen Kunstwerke zu realisieren und damit die beruflichen Qualifikationen der Teilnehmer zu verbessern.

Diskussion im Kultur-Historischen Museum mit (von links): Reto Kämpfer, Rainer W. Walter, Ueli Studer und Marc Reist.

Diskussion im Kultur-Historischen Museum mit (von links): Reto Kämpfer, Rainer W. Walter, Ueli Studer und Marc Reist.

Andreas Toggweiler

So baute Studer, inspiriert von den Fossilfunden im Jurakalk, den Ammoniten auf dem Oberberg und Reist die Skulptur «Tag und Nacht» zur Entschleunigung und zum Abschluss der Lindenstrasse. Beide Kunstwerke waren aus Holz und technisch so anspruchsvoll wie möglich konstruiert, damit sie nicht zu schnell fertig waren.

An kniffligen Aufgaben wachsen

«Ich habe gemerkt, wie fantasievoll die Leute mit den Problemen umgehen. Sie sind daran gewachsen», erinnert sich Marc Reist. Eine Feststellung, die die übrigen Gesprächsteilnehmer unterschreiben können. «Alle sind gern zur Arbeit gekommen», blickte Ueli Studer zurück. «Der Ammonit hatte landesweit Ausstrahlung und war ein grosser Erfolg für die Stadt.»

Entsprechend Studers Ärger, als sein Werk, angefault und instabil geworden, vor etwa 15 Jahren in einer gedankenlosen Aktion «schnöde abgerissen wurde», ohne dass er informiert wurde. «Ich hätte eine würdige Verabschiedung machen wollen.» Es sei ihm nicht darum gegangen, die Skulptur zu erhalten, stellte Studer klar. «Denn schliesslich können wir nicht die ganze Schweiz möblieren.»

Hilfe zur Selbsthilfe

Reists «Tag und Nacht» hingegen ist heute in dauerhaften Beton gegossen. Die Stadt mochte nicht auf das Wahrzeichen hinter dem Museum verzichten und gebot dem Zahn der Zeit Einhalt – ungefähr zu der Zeit, als für den Ammoniten die letzte Stunde schlug.

«Eure Projekte sind ein super Werbespot für unsere Thematik. Beim Netzwerk geht es um Hilfe zur Selbsthilfe, und dazu muss man Leuten in Krisen Wertschätzung geben», sagte Reto Kämpfer, der den Künstlern zuvor interessiert zugehört hatte. So erfolgreich ist das Netzwerk im Krisenmanagement, dass es seine Aktivitäten mittlerweile auf den halben Kanton Solothurn und auf die Stadt Biel habe ausweiten können. Das Projekt «selb + ständig», das Erwerbslose ins Unternehmertum führen soll, habe sogar über die Landesgrenzen hinaus Aufmerksamkeit geweckt.

Kunst braucht einen Aufhänger

«Die Kultur ist das letzte Netz, das die Leute in schweren Zeiten auffängt», ist Marc Reist überzeugt und Ueli Studer pflichtete ihm bei. Entsprechend kritisch beurteilte Studer blosse Beschäftigungsprogramme ohne künstlerischen Wert. Arbeit, die sonst niemand tun will, habe für das Selbstwertgefühl der Beteiligten nicht denselben positiven Effekt wie die Gestaltung eines Kunstwerks.

Andererseits sei er sich bewusst, dass man «nicht zwei Leuchttürme nebeneinanderstellen kann, weil sie sich sonst das Licht nehmen. Kunst darf nicht im luftleeren Raum hängen. Sie braucht einen Aufhänger, und diesen kann man nur erkennen, aber nicht selbst machen.»

Das war dem Gesprächsleiter aus der Seele gesprochen. Rainer W. Walter fragte mehrfach nach einer konkreten Zusammenarbeit der Künstler mit dem Netzwerk und lud die Gesprächspartner schliesslich zu sich ein, um Ideen für Projekte zu entwickeln.