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Vor rund einem Jahr haben die Alterszentren Grenchen die Abgabe von Medikamenten an ihre Bewohnerinnen und Bewohner neu geregelt (wir berichteten). Diese Zeitung wollte nun wissen, wie es ein Jahr später steht, ob man immer noch davon überzeugt ist, mit dem Wechsel die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Ein Blick zurück: Vor etwas mehr als anderthalb Jahren hat der Stiftungsrat der Alterszentren Grenchen Kastels und Weinberg beschlossen, bei der Medikation ihrer Bewohnerinnen und Bewohner einen neuen Weg einzuschlagen. Statt dass die Bewohner die Medikamente über den Arzt beziehen und der Pflegedienst sie einzeln bereitstellt, kommen diese jetzt für jeden Bewohnenden in Plastikfoliensäcklein, beschriftet mit den Daten des Patienten und dem Inhalt. Damit will man nicht nur wirtschaftlicher arbeiten und Kosten senken, sondern auch die Sicherheit für die Bewohnerinnen und Bewohner erhöhen.
Zu diesem Zweck lagerte man das Medikamentensystem an die Coop Vitality Apotheke im Centro aus, die mit der Oensinger Firma Medifilm AG zusammenarbeitet. Diese Firma beschäftigt an ihrem Standort rund 50 Mitarbeitende und verpackt im Monat im Schnitt 2,5 Millionen Tabletten in rund einer Million Plastiksäcklein.
Bis dato wurden die Medikamente für die Bewohnerinnen und Bewohner der Alterszentren Grenchen von ihrem jeweiligen Arzt verschrieben und zum Teil auch direkt abgegeben. Der Pflegedienst hatte die Aufgabe, die Medikamente für die Bewohner nach ärztlicher Verordnung bereitzustellen. Eine Aufgabe, die äusserst zeitintensiv war. Alleine für die Bereitstellung und Kontrolle der Medikamente benötigte man für beide Häuser knapp die Kapazität einer Vollzeitstelle.
Ausserdem hatte der Kanton nach einem Aufsichtsbesuch im Jahr zuvor den Alterszentren Grenchen eine Auflage aufgebrummt: Statt wie bisher die verschiedenen Medikamente jeweils jedem Bewohner, jeder Bewohnerin individuell in einem Becher bereitzustellen und beispielsweise zu den Mahlzeiten zu verabreichen, mussten die Pflegenden die einzelnen Tabletten im Blister, der Originalverpackung, belassen und mit einer Schere ausschneiden. Erst bei der Verabreichung durften sie oder die Bewohnerinnen und Bewohner die Medikamente aus der Verpackung nehmen. Dies sei aus hygienischen Gründen notwendig, meinten die Verantwortlichen des Kantons. Zudem vermeide man so Verwechslungen, weil es von jedem Medikament inzwischen viele verschiedene Erscheinungsformen gebe und sie ohne Verpackung nicht identifizierbar seien.
Inzwischen hat man ein Jahr lang Erfahrungen mit dem neuen System gesammelt und diese Zeitung wollte von vier Direktbetroffenen wissen, wie sie den Wechsel erlebt haben und was sie jetzt dazu sagen. Wir sprachen mit der Pflegedienstleiterin Cécile Boillat, der Fachverantwortlichen Andrea Valli, mit Jessica Leins, Leiterin Pflege im Alterszentrum am Weinberg und mit der Fachangestellten Gesundheit, Almina Demirci.
Die Vorbereitungszeit sei eher unruhig und etwas stressig gewesen, sagt Andrea Valli. Aber die Umsetzung und der Wechsel zum neuen System seien relativ ruhig verlaufen. «Natürlich gab es einige Mitarbeitende, die skeptisch waren am Anfang. Diese Skepsis hat sich aber rasch gelegt.» Sie sei ganz und gar nicht begeistert gewesen über den Wechsel, meint Almina Demirci: «Ich stand gerade zwei Wochen vor der Abschlussprüfung und musste mich noch rasch in ein völlig neues System einarbeiten. Das war nicht besonders motivierend. Vor allem befürchtete ich, dass die Medikamentenkunde auf diese Art zu kurz kommt. Inzwischen weiss ich aber, da ich auch selber als Ausbildnerin tätig bin, dass das Wissen um die Medikamente innerhalb des Betriebs einfach anders vermittelt werden muss.»
Das sei sowieso die grösste Sorge der Mitarbeitenden gewesen am Anfang, sagt Jessica Leins: «Viele hatten Mühe damit, sich jetzt komplett auf eine Maschine verlassen zu müssen. Denn jede Medikamentenabgabe ist einzeln verpackt, unter Umständen sind also drei Säcklein pro Tag für einen Bewohner, eine Bewohnerin vorbereitet. Einige Mitarbeitende haben am Anfang jedes Säcklein genau geprüft, ob da kein Fehler vorliegt, also sogar noch Mehraufwand betrieben.»
Viele hatten Mühe damit, sich jetzt komplett auf eine Maschine verlassen zu müssen.
(Quelle: Jessica Leins, Leiterin Pflege im Alterszentrum am Weinberg)
Die Skepsis ist mittlerweile einem grossen Vertrauen in das neue System gewichen. Denn Fehler seien keine passiert. Und auch die Befürchtung, Kompetenzen zu verlieren, waren offenbar unbegründet, wie Cécile Boillat sagt. «Lernende und Pflegende müssen sich genauso darüber informieren, welche Nebenwirkungen ein Medikament haben kann, das vom Arzt verordnet wird. Insbesondere, wenn neue Medikamente verschrieben werden, muss man sich informieren. Es geht kein Wissen verloren». Unter anderem auch, weil auch die von der Abpackfirma gelieferten Listen kontrolliert und im System abgeglichen werden müssen.
Die Kosten für die externe Medikamentenbereitstellung werden nicht an die Bewohner weiterverrechnet, sondern vollumfänglich von den Alterszentren Grenchen getragen. Die Bewohner –respektive deren Krankenkassen – bezahlen lediglich die Medikamente, die sie auch schlucken. Auch hier konnte man Einsparungen machen, die den Bewohnern zugute kommen: Bis dato wurden oft Grosspackungen abgegeben, die einmal angebrochen nicht mehr verwendet werden durften, wenn neue Medikamente verschrieben wurden oder eine Person starb.
Der grösste Vorteil des neuen Systems allerdings sei die Zeitersparnis: Einerseits bei der Bereitstellung der Medikamente, wie erwähnt, andererseits stünde der Apotheker in direktem Kontakt mit den Hausärzten, was für das Personal eine grosse Entlastung bedeute, erklärt Cécile Boillat. Änderungen in der Verordnung würden direkt über die Apotheke und Medifilm abgewickelt.
«Alle Bewohnerinnen und Bewohner im Weinberg haben sich für das neue System entschieden - mit einer Ausnahme», sagt Jessica Leins. Dieser Bewohner habe sich aber nicht gegen das neue System gewehrt, sondern dagegen, seine Autonomie aufgeben zu müssen.
Als bekannt wurde, dass die Alterszentren Grenchen dem Beispiel anderer Häuser folgen würden und die Medikamentenabgabe neu geregelt wird, erhob sich unter den Grenchner Hausärzten ein Sturm der Entrüstung. Kein Wunder, denn die Einnahmen aus dem Direktverkauf von Medikamenten macht einen nicht unbeträchtlichen Teil des Einkommens aller Solothurner Ärzte aus. Im Kanton Bern beispielsweise, wo den Ärzten der Verkauf von Medikamenten grundsätzlich untersagt ist, sind die Ansätze für die Taxpunkte deshalb höher als im Kanton Solothurn. Die Taxpunkthöhe ist ausschlaggebend für die Behandlungskosten, die der Arzt in Rechnung stellen kann. Folglich brach den rund 25 Hausärzten, die in den beiden Häusern der Alterszentren ihre Patientinnen und Patienten behandelten, ein nicht unwesentlicher Teil ihres Einkommens weg. Also wurde alles versucht, um den Entscheid rückgängig zu machen. Wie diese Zeitung aus verschiedenen Quellen vernommen hat, flogen förmlich die Fetzen. Briefe weit unter der Gürtellinie wurden verschickt, man versuchte auf jede erdenkliche Weise, Druck auf die Heimleitung auszuüben. Nur: Den Entscheid hatte der Stiftungsrat gefällt, und der blieb bei seiner Meinung.
Inzwischen haben sich die Wogen etwas geglättet. Manch ein Hausarzt vertritt noch heute die Meinung, das neue System verhindere eine rasche Änderung der Medikation. Wenn das nötig werde, sei es gar gefährlich, weil die Pflegenden sich nicht mehr mit den Medikamenten befassen müssen und ihnen das Wissen abhandenkomme. Und billiger werde es auch mit dem neuen System nicht für die Patienten. Einige Ärzte haben ihre Patienten, die im Heim wohnen, an andere Ärzte überwiesen. Andere Ärzte haben sie ohne zu zögern übernommen. (om)