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Kurt Boner, Leiter der Sozialen Dienste, spricht im Interview mit dem az Grenchner Tagblatt über steigende Kosten und Systemprobleme in der Sozialhilfe.
Kurt Boner, heute Abend beantragen Sie im Gemeinderat ein weiteres Mal einen Nachtragskredit. Die Kosten für die Sozialhilfe steigen weiter. Warum hört das nicht auf?
Kurt Boner: Es gibt da keine einfachen Wahrheiten. Angeführt kann sicher werden, dass die Sozialhilfe von den Sanierungsversuchen der IV und den veränderten Anspruchsbedingungen der ALV betroffen ist. Es finden Kostenabwälzungen auf die Gemeinden statt. Das geht langsam, stetig und unspektakulär. Bei der Sozialhilfe werden da immer mehr «Sozialrentner» produziert, das heisst eben Menschen, die null Chancen haben, wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen.
Sozialrentner sind in Grenchen ein heisses Thema. Wie viele hat Grenchen im Vergleich mit anderen Städten?
Die Situation in Grenchen ist nicht speziell, sondern für Städte mit ähnlicher Bevölkerungsstruktur typisch. Ich probiere, die Tatsachen zu benennen. Die Sozialhilfe wird von den Gemeinden zu 100 Prozent aus den Steuern finanziert, da ist das Ansprechen von Problemen angebracht.
Hand aufs Herz. Bei diesen Fällen handelt es sich um tragische, aber hoffnungslose Fälle. Manch einer dürfte dadurch auch andere Probleme, beispielsweise mit dem Alkohol bekommen...
In der Regel kommt zuerst das Alkoholproblem oder andere Probleme und dann die Sozialhilfe. Sozialrenten sind nicht wichtig – sie werden einfach durch unsere gesellschaftlichen Realitäten und durch das Sozialversicherungssystem produziert und sind Tatsache. Man kann die Sache schönreden und anders benennen. Das können aber andere machen.
Was macht man mit diesen Menschen in der Sozialhilfe?
Eine professionelle Fallbearbeitung beinhaltet, eine Segmentierung vorzunehmen und differenziert vorzugehen. Alle Menschen mit Sozialhilfe in den gleichen Topf zu werfen, ist nicht statthaft. Die Fallführenden haben mindestens vorläufige Entscheidungen zu treffen. Ist eine Integration möglich und sinnvoll, sind Ressourcen und Fachwissen einzusetzen, um die entsprechenden Ziele zu erreichen. Wenn eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt aussichtslos ist, soll eine ressourcenschonende Sozialrente nach Richtlinien ausgerichtet werden. Das schliesst natürlich Freiwilligenarbeit und Beschäftigung nicht aus, um dem Gegenleistungsprinzip Nachdruck zu erteilen.
Wie werden diese Menschen wieder in den Arbeitsmarkt integriert?
Wir können da natürlich keine Wunder vollbringen. Arbeitsfähige Menschen werden in Integrationsprojekte vermittelt. Da müssen Auflagen an die Gewährung der Sozialhilfe erfüllt werden. Wenn die Regeln verletzt werden, erfolgen die dafür vorgesehenen Sanktionen bis zur Streichung der Sozialhilfeleistungen. Spezielles Augenmerk wird auf die jungen Menschen gerichtet. Hier haben wir in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Grenchen spezielle Angebote im Bereich der 18- bis 25-Jährigen eingerichtet. Individuelles Coaching ist da neben Qualifikation für den Arbeitsmarkt angesagt.
Funktioniert das heutige Sozialversicherungssystem im Zusammenhang mit der Sozialhilfe?
Das System ist zu kompliziert und zu missbrauchsanfällig. Statt sich mit notwendigen Reformen zu beschäftigen, ist man in den einzelnen Zweigen und auf allen Ebenen immer noch daran, weitere Perfektionierungen vorzunehmen. Mit praktisch jeder sogenannten Verbesserung werden neue Schnittstellenprobleme geschaffen, die dann weiteren Regelungsbedarf nach sich ziehen. Ganz generell sind die Anreize zu gering, sich wieder in ein selbstständiges Leben zu begeben.
Konkreter?
Die Ansätze einer IV-Rente mit Ergänzungsleistungen oder die Ansätze der Sozialhilfe sind wohl tiefer als bei einem 100-Prozent-Job, das ist jedoch nur die Bruttobetrachtung. Wenn man schaut, wie viel netto im Geldbeutel bleibt, ist der Berufstätige im Niederlohnbereich nach Bezahlung von Steuern und einem Teil der Krankenkassenprämien sicher nicht bessergestellt. Arbeit lohnt sich also nicht in jedem Fall.
Wer muss die Reformen anpacken?
Auf kommunaler Ebene ist da wenig zu machen, auf kantonaler Ebene einiges, das meiste bleibt jedoch auf der Bundesebene. Das ist harte «Knochenbüez», welche den Horizont der nächsten Wahlen übersteigt. Es ist auch sehr unsicher, inwieweit sich ein diesbezügliches Engagement in zusätzlichen Stimmen bei den Wahlen auszahlen würde. Auf kantonaler Ebene wünsche ich mir eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden – vertreten durch den Verband Solothurnischer Einwohnergemeinden – und dem Kanton. Hier liegt viel Verbesserungspotenzial.
Kommen wir noch zu kantonalen Themen. Hat sich die Bildung von Sozialregionen bewährt? Diese funktionieren ja nun seit 2009.
Sie werden sich sicher bewähren. Die Voraussetzungen waren und sind jedoch immer noch sehr unterschiedlich, sowohl von der Grösse her wie von der Bevölkerungsstruktur in den einzelnen Regionen. Ich denke, es wird noch weitere Zusammenschlüsse geben. Optimaler wären sicher 10 Regionen statt der bestehenden 14.
Ist es richtig, dass die Qualität in den verschiedenen Sozialregionen teilweise stark variiert?
Ja, und qualitativ gibt es auch Verbesserungspotenzial, das ist für mich keine Frage. Hier müssen auch heikle Themen wie Kontrolle und Controlling konsequenter angegangen werden. Allerdings sind auch die Bedingungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie sie heute im Sozialgesetz und der Verordnung definiert sind, anzupassen. Arbeitsbelastungen von 100 Dossiers pro Sozialarbeiter sind aus meiner Sicht nicht geeignet, um genügend Qualität zu erreichen.
Bedeuten die professionelleren Sozialregionen auch weniger Kosten?
Nein. Ich habe aber nie mit sinkenden Kosten gerechnet. Aus meiner Sicht gibt es einfach keine Alternative zu regionalen Lösungen.