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Sechs angehende Lehrerinnen und Lehrer aus dem Welschland absolvieren ein Praktikum im Kastelsschulhaus.
Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 6f im Kastelsschulhaus sitzen konzentriert an ihren Pulten. Die Aufgabe, die sie zu lösen haben, ist nicht einfach: Auf einem Blatt haben sie eine Auswahl an übersetzten Zeichen der Blindenschrift «Braille», auf einem anderen Blatt müssen sie einen Satz von Braille in die «normale» Schriftsprache übersetzen. Das Ganze findet im Rahmen des Mathematik-Unterrichts statt. Das übergeordnete Thema: Codes, Codierung, Geheimsprachen.
Aussergewöhnlich ist nur, dass ausser dem Lehrer Kurt Gasche noch zwei weitere männliche Lehrpersonen im Raum sind und den Unterricht leiten: der 31-jährige Gauthier Sandoz und der 39-jährige Cédric Bellini, beide aus Neuenburg. Sie gehören zu einer sechsköpfigen Gruppe von Studierenden der Pädagogischen Hochschule Bern-Jura-Neuenburg in La Chaux-de-Fonds, die im Kastelsschulhaus ein einmonatiges Praktikum absolvieren.
Die meisten Kinder haben die Aufgabe gelöst. Wer fertig ist, widmet sich anderen Dingen im Lehrmittel, löst weitere Aufgaben. Bis Gauthier Sandoz um Aufmerksamkeit bittet. Die Kinder hatten eine Reihe von Aufgaben zu lösen, bei denen es um die Anzahl Möglichkeiten von Zahlenkombinationen bei einem vierstelligen Code geht, wenn gewisse Vorbedingungen erfüllt sein müssen. Sandoz leitet den Unterricht auf Deutsch und das gelingt ihm recht gut. Ab und zu macht er zwar einen Fehler in der Aussprache und wird von Kurt Gasche korrigiert. Genau darum geht es in erster Linie auch bei diesem Austausch: Die Praktikantinnen und Praktikanten haben die Möglichkeit, ihr Deutsch zu verbessern.
Der Austausch von Praktikantinnen und Praktikanten zwischen den Sprachregionen hat Tradition. Schon vor rund 20 Jahren absolvierten angehende Lehrpersonen aus dem Kanton Solothurn Praktika in Neuenburg und solche der französischsprachigen Pädagogischen Fachhochschule «HEP BEJUNE» in La Chaux-de-Fonds Praktika in Grenchen. In früheren Jahren dauerten die Praktika sogar sechs Wochen und fanden in der Regel im Herbst statt. Seit ein paar Jahren wurde der Termin auf den Januar verlegt und die Dauer auf vier Wochen verkürzt. In der Regel sind die Praktikantinnen und Praktikanten bei Gastfamilien untergebracht während dieser Zeit.
Bei den beiden Männern ist das etwas anders, denn beide sind eigentliche Quereinsteiger: Gauthier Sandoz studierte ursprünglich Biologie bis zum Bachelor, bevor er sich dazu entschloss, die Ausbildung zum Primarlehrer in Angriff zu nehmen. «Mich interessiert die Verknüpfung der verschiedenen Fächer und ich habe bei zahlreichen Stellvertretungen und Praktika auch festgestellt, dass ich grossen Spass am Unterrichten der Kleinen habe.»
Ausserdem, und das sei ein wesentlicher Aspekt, seien die Aussichten, als Quereinsteiger im Lehrberuf eine Stelle zu finden, sehr günstig. Und nicht zuletzt habe die Tatsache, dass schon seine Mutter Lehrerin sei, ihn sicher auch auf diesen Weg gebracht. Cédric Bellinis Weg ist noch etwas abenteuerlicher: Der heute 39-Jährige absolvierte eine musikalische Ausbildung und wollte ursprünglich Musiklehrer werden. Bellini spielte in diversen Bands, unter anderem trat er während der Expo 02 fast jeden Abend auf der Arteplage in Neuenburg auf. Kurz darauf bot man ihm an, ein Restaurant in Auvernier zu übernehmen. Dieses führt er noch heute. «Da das Restaurant erst am Abend geöffnet ist, konnte ich tagsüber viel Zeit mit meinen Kindern verbringen, die in der Zeit geboren wurden. Mittlerweile sind es deren vier.»
Nun sei das Jüngste schon im Kindergartenalter, das ermögliche ihm, die dreijährige Ausbildung zum Primarlehrer zu absolvieren. «Die Musik ist immer noch mein grosses Hobby, und ich denke auch, dass ich als Lehrer Musik vermehrt im Unterricht einbauen werde.»
Er sei sehr motiviert für den Lehrberuf. «Ich habe schon viel gemacht in meinem Leben und auch viele Erfahrungen gesammelt. Im Unterschied zu manchen Jungen, die in den Lehrberuf einsteigen, weiss ich, weshalb ich das tue.» Da nehme er es auch auf sich, jeden Tag zwei Stunden im Auto zu sitzen und am Abend noch in seinem Restaurant präsent zu sein.
Und wie erleben die beiden «Quereinsteiger» die Grenchner Schule? Es sei eine sehr gute Erfahrung, sagen beide unisono. «Wir erleben hier eine Schule, in der alles sehr gut organisiert ist und gut funktioniert, mit guten Strukturen.» Die Schule sei auch bestens ausgerüstet. Sie hätten ab und zu mal einen Schrank geöffnet und sich darüber gewundert, was alles vorhanden sei und wie ordentlich und aufgeräumt alles ist. «Das ist bei den Neuenburger Schulen, in denen wir bisher Praktika absolviert haben, manchmal schon etwas anders.» Aber sonst gebe es keine «kulturellen» Unterschiede zwischen ihnen und den deutschsprachigen Kollegen, beispielsweise im Lehrerzimmer. Da herrsche eine sehr gute, kollegiale Stimmung.
Auch mit den Kindern kämen sie ganz gut zurecht, mit den Mädchen vielleicht etwas besser als mit den Buben, sagen die beiden Männer. «Die Knaben nützten die Tatsache, dass unser Deutsch manchmal nicht so perfekt ist, am Anfang ab und zu aus.» Aber jetzt, nach drei Wochen, hätten sie selber auch etwas die Hemmungen verloren, vor der Klasse Deutsch zu sprechen und Fehler zu machen. «Wir haben selber grosse Fortschritte machen und unser Sprachverständnis stark verbessern können. Eine sehr gute Erfahrung.»
Ein Zimmer weiter bei der Klasse 6g von Salvatore Toro geht es recht laut zu und her. Lehrer Toro muss einige Male ein paar Jungs zur Ruhe aufrufen. Nastasia Brammeier, 22, und Celène de Pury, 21, gehen den Schülerinnen und Schülern bei den Aufgaben zur Hand. Sie haben eben eine Stunde Deutschunterricht, den sie selber geleitet haben, hinter sich gebracht. «Am Anfang war es etwas schwierig, vor die Klasse zu treten und Deutsch zu sprechen. Aber jetzt, nach drei Wochen, sind wir entspannter und haben auch keine Angst mehr, Fehler zu machen.» Die beiden jungen Frauen sind bei Gastfamilien untergebracht. «Ein grosser Vorteil», sagen beide, «in der Gastfamilie diskutieren wir am Abend über alles Mögliche, das bringt sehr viel».
Wie alle sechs Absolventen des Praktikums sind sie jetzt in der Mitte der dreijährigen Ausbildung und haben bereits einige andere Praktika in welschen Schulen in ihrem Kanton absolviert.
Es gebe schon grosse Unterschiede im Schulsystem: Während im Kanton Solothurn die Kleinklassen abgeschafft wurden und Kinder mit Lernschwierigkeiten, integriert in den normalen Klassen, unterrichtet werden, gibt es die Trennung im Kanton Neuenburg noch. «Das Niveau bei uns in den Klassen auf der Altersstufe ist etwas höher als hier», sagt Nastasia Brammeier. Das habe aber nichts mit der Integration hier zu tun, von der sie herzlich wenig spüren würden. Und auf die Frage, ob sie das Kastelsschulhaus als besser organisiert und strukturiert empfinde, als die Schulen, die sie bis jetzt besucht habe, sagt Celène de Pury: «Ich habe auch im Welschen sehr gut organisierte Schulen erlebt, einen so grossen Unterschied sehe ich da nicht.» Auch sie schwärmen beide von ihren deutschsprachigen Kolleginnen und Kollegen, die sich sehr für sie interessierten und mit denen sie ein gutes Einvernehmen hätten.
Die 21-jährige Nadège Vuillemin aus Neuenburg und die 20-jährige Marine Bringolf aus La Chaux-de-Fonds haben eine gute Klasse erwischt, wie sie sagen. Die Fünftklässler der Klasse 5f von Nicole Bucher – Marine Bringolf wohnt während der Zeit des Praktikums bei ihr – und Mirjana Blasevic seien herzallerliebst. «Sie haben uns sogar Zeichnungen gemacht, für uns gesungen, einfach toll.» Auch sie waren anfangs wegen des Deutsch gestresst. «Aber man merkt schnell, dass die Kinder einem Fehler nicht übel nehmen. Sie waren von Anfang an sehr offen und zeigten viel Interesse an uns.»
Beide sind direkt vom Gymnasium an die Pädagogische Fachhochschule gelangt. Doch während es für Nadège Vuillemin ziemlich klar ist, dass sie Primarlehrerin werden will, sieht Marine Bringolf die Ausbildung auch als eine Art Übergang, bis eventuell ihr eigentlicher Traum in Erfüllung gehen könnte. Sie ist nämlich aktive Tänzerin, trainiert 14 Stunden die Woche und hat schon an etlichen Turnieren Preise geholt, Hip-Hop, Jazz, Streetdance. «Ich könnte mir gut vorstellen, eines Tages meine eigene Tanzschule aufzumachen.» Bis dahin ist’s aber ein weiter Weg. Also absolviert sie erst einmal die Ausbildung zur Primarlehrerin, ein Beruf, der ihr viele Möglichkeiten biete, wie sie sagt.
Heute hatten sie übrigens ein einfaches Spiel, die beiden jungen Frauen. Sie unterrichteten selber das Fach Französisch. Ein Heimspiel, sozusagen.