Startseite
Solothurn
Grenchen
Guido Studer, der Pionier der ersten Stunde, geht in Pension. Letzten Freitag hatte er den letzten Arbeitstag nach gut 23 Jahren als Institutionsleiter.
Was er mitnimmt, ist einen prall gefüllten Rucksack voller Erinnerungen an Erfolge und Misserfolge, an Alltagsroutine und Kuriositäten im Umgang mit psychisch beeinträchtigten Mitmenschen. Er schaut gern zurück – und er hat eine Menge zu erzählen. Kein Wunder, denn aus den anfänglich 16 Plätzen in der einstigen Villa Grimm (Schmelzistrasse 21 – heute Wohnheim Schmelzi) sind 180 Plätze geworden. Diese verteilen sich nicht nur über die Stadt Grenchen, sondern beinhalten auch betreute Wohngemeinschaften in Zuchwil und Gänsbrunnen.
Es fehlt wieder einmal ein Vorhang im Wohnheim. Der Grund: Eine Klientin trägt ihn als Poncho und wandert damit in der Stadt herum. Dafür hat sie kurzerhand mit der Schere ein Loch in den Stoff geschnitten. «Das war die harmlose Variante von diesem Handeln. Wenn die Frau sich derart ‹kreativ’ an den Kleidern anderer Bewohner vergriffen hat, gab es natürlich Spannungen im Haus.» Guido Studer lacht, als er das erzählt. Humor ist für ihn ein entscheidender Bestandteil für erfolgreiche sozialpädagogischen Arbeit.
Ihm war es stets wichtig, dass die belastenden und traurigen Aspekte im Umgang mit psychisch beeinträchtigten Personen einen humoristischen Ausgleich im Betreuungsalltag finden. Denn viele Biografien von Schmelzi-Bewohnern sind zum Heulen: Eine Kindheit mit Gewalt, Vernachlässigung, fehlender Integration, süchtigen und oder arbeitslosen Eltern prägt immer wieder Muster, die sich in der folgenden Generation wiederholen. Kommt dann eine psychische Erkrankung dazu, wie etwa eine Schizophrenie, dann klopfen die Betroffenen oder stellvertretend für sie, die Behörden, früher oder später bei der Stiftung Schmelzi an.
Heute geschieht das früher als in der Gründungsphase 1996. «Das Durchschnittsalter der Klienten beim ersten Kontakt hat sich von Mitte 40 auf Mitte 20 gesenkt. Früher hatten wir den Büezer mit Berufsstolz, der irgendwann dem Alkohol verfallen ist», sagt Guido Studer. «Heute sehen sich diese Leute schon im jungen Alter mit einer Chronifizierung ihrer Probleme konfrontiert.»
Für viele von ihnen gibt es darum keine Rückkehr beziehungsweise keinen Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt; gerade in der Industrie, die früher Nischen für Menschen mit psychischen und sozialen Beeinträchtigungen bot, sind die passenden Tätigkeiten automatisiert worden. Diese Realität konfrontiert Betreuer und Klienten gleichermassen mit grossen Herausforderungen: Woher kommt die Motivation gesünder und disziplinierter zu leben, wenn komplette, sprich: finanzielle Selbstständigkeit unerreichbar ist?
Erfolg kann im Kontext der Stiftung darum heissen, dass eine Person mit wenig Beratung unauffällig in einer Wohnung von Sozialhilfe lebt. Umso mehr freut sich der abtretende Schmelzi-Leiter über Klienten, die es nach einem Absturz ganz zurück in die Gesellschaft schaffen. Er erzählt von einem Mann, der nach einer Depression zum Trinker wurde und dank einem Aufenthalt in der Stiftung Schmelzi die Kurve kriegte, zurück in den Arbeitsmarkt und in die Unabhängigkeit. «Er kommt uns immer noch besuchen und nimmt noch an gewissen Freizeitaktivitäten teil.»
Dann schweift Guido Studers Erinnerung zu einem der Originale der Schmelzi-Geschichte: «Ein ganz gerissener Typ, ein richtiges Schlitzohr. Ein Mann, der sich als Frauenheld sah und nichts lieber tat, als auswärts in die Disco zu gehen – und den letzten Zug zu verpassen. Dann rief er die Ambulanz und meldete, auf dem Parkplatz liege einer. Er legte sich auf den Parkplatz und liess sich von der Ambulanz retten. Ich habe nie gezählt, wie oft dieser Klient mit der Ambulanz heimgekommen ist – manchmal aus Städten wie Neuenburg und Lausanne.»
Angesichts solcher Geschichten erstaunt es kaum noch, dass eine Bewohnerin Appetit auf Christbaumkugeln hat und diese sowie anderes Glas gelegentlich verschluckt. «Diese Klientin ist recht selbstständig. Schliesslich haben wir erreicht, dass wir ihr das Geld für das Taxi in die Hand drücken können und sie allein ins Bürgerspital fährt, wo die Scherben aus ihrem Magen entfernt werden. Zum Glück werden diese Zwangshandlungen immer seltener», sagt Guido Studer.
Bemerkenswert ist hingegen, wie selten Gewaltausbrüche gegen Menschen in der Stiftung Schmelzi sind. Guido Studer kann sich an «höchstens zehn tätliche Angriffe» erinnern. Dabei sei niemals eine Waffe im Spiel gewesen und niemand ernsthaft verletzt worden. «Selten einmal kann es vorgekommen, dass wir ein Messer, einen Wurfstern oder eine Schusswaffe in einem Zimmer finden und konfiszieren», sagt der abtretende Institutionsleiter.
Sorgen oder genauer gesagt, Bedauern, macht ihm nur der ständig steigende administrative Aufwand. Dieser gehe auf Kosten der Betreuungsqualität und -zeit der Bewohner und Bewohnerinnen, moniert Guido Studer. Ein Thema, zu dem er sich im aktuellen Jahresbericht der Stiftung ausführlich und höchst lesenswert äussert.
Guido Studer ist der geborene Macher. Ursprünglich hat er Mechaniker gelernt, sich dann zum Psychiatriepfleger ausgebildet und auf diesem Beruf auch gearbeitet, Sozialpädagogik studiert und den Heimleiterkurs absolviert. Daran, dass die Stiftung Schmelzi in der Deutschschweiz zur bekannten und geachteten Institution geworden ist, daran hat übrigens seine Frau, Marianne Studer, entscheidenden Anteil. Sie ist bereits 2012 nach 15 intensiven Schmelzi-Jahren in den Ruhestand getreten.
Grosse Reisen seien nicht geplant, sagt Guido Studer. Den Sommer wollen er und seine Frau in ihrem Haus in Estavayer-le-Lac geniessen. Öfter Fischen gehen und mehr Zeit seiner Uhrensammlung und dem «Zwägmache» von Uhren widmen, das hat sich Guido Studer fest vorgenommen. Er geht ruhigen Herzens. Seine Nachfolgerin, Berit Ducommun, hat die letzten zwölf Jahre sein Team mitgeprägt. Er ist überzeugt: «Sie weiss genau, worauf es ankommt.»