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Die Grenchner Partnerstadt Sélestat wurde wie das übrige Elsass früh und heftig vom Coronavirus getroffen. Die traurige Bilanz im Elsass: rund 1000 Todesfälle. Das schrieb die «Badische Zeitung» am 15. April; auch die deutsche Stadt Waldkirch ist Partnergemeinde von Sélestat.
Jetzt, nach fast zwei Monaten des medizinischen Notstands und sechs Wochen Ausnahmezustand, sieht die Stadtverwaltung von Sélestat endlich Licht am Ende des Tunnels: Die Infektionszahlen stabilisieren sich. Bisher sind es gegen 400 (bei einer Bevölkerung von knapp 20'000 Personen; die Anzahl Corona bedingter Todesfälle liess sich nicht in Erfahrung bringen), wenn auch nach Aussage von Bürgermeister Marcel Bauer noch nicht von einer Reduktion der Fälle gesprochen werden kann.
Glück im Unglück hatte Sélestat dank seinem Spital mit 130 Betten. Dieses sei komplett als Coronastation genutzt worden. Sogar die Intensivstation, die der Staat vor fünf Jahren geschlossen hatte, habe man wieder in Betrieb nehmen können. In der Region Grand Est (so heisst der Verwaltungsbezirk, zu dem das Elsass gehört seit der Departementfusion 2016) sei es dennoch nötig gewesen, Dutzende Patienten in Spitäler in andere Teile von Frankreich und teilweise ins Ausland zu verlegen.
Zurück zum Spital Sélestat: «Seit ein paar Tagen kann eine unserer Spitalabteilungen mit 30 Betten wieder als allgemeine Abteilung genutzt werden», schreibt Bauer auf Anfrage.
Wie überall in Frankreich, wo in der Krise Not am Mann respektive der Frau war, hat das Spitalpersonal in Sélestat Unterstützung erhalten durch Ärzte im Pensionsalter. Mangel bestand bei den Beatmungsgeräten, Geräte, wie sie bei der Narkose zum Intubieren der Patienten verwendet werden. Davon zeugt der offene Brief der Stadtverwaltung von Ende März auf der Website der Stadt, in dem eindringlich darauf hingewiesen wird, dass die versprochene Lieferung Mitte Monat ausgeblieben sei. Der Druck via Pressecommuniqué hat gewirkt. «Die fünf Geräte sind dann eingetroffen», bestätigt Bauer, «aber das Spital hatte sich leistungsfähigere Apparate erhofft.»
Der Grenchner Stadtpräsident, François Scheidegger, hält während der schwierigen Zeit den Kontakt zum Schlettstadter Bürgermeister per Telefon aufrecht. «Letzte Woche hat Marcel Bauer mir gesagt, dass die verzögerte Lieferung der Beatmungsgeräte mehrere Todesfälle zur Folge hatte. Das dünkt mich besonders tragisch. Das Personal wäre da, der Platz auch, obwohl die Notaufnahme in Sélestat offenbar an ihre Kapazitätsgrenze gekommen ist, und dann sterben unnötig Menschen, weil es an der Technik fehlt.» In solchen Momenten wünscht sich Scheidegger, die Uhrenstadt könnte die Zeit zurückdrehen vor das Jahr 2011: «Dann hätte das Spital Grenchen vielleicht Hilfe anbieten können.»
Das strenge Lockdown-Regime von Frankreich erlaubt den Bürgern, abgesehen von Lebensmitteleinkauf und Arztbesuch, täglich höchstens eine Stunde in einem Umkreis von 1000 Metern der Wohnung spazieren oder joggen zu gehen und nur allein. Velofahren sowie Ausflüge mit Partner oder Familie sind verboten. Voraussichtlich wird sich daran vor dem 11. Mai kaum etwas ändern. Ein Grossteil der Wirtschaft ist lahmgelegt. Nach Aussage von Scheidegger ist auch die Stadtverwaltung in Sélestat auf einen Notbetrieb reduziert. Neben der notwendigen Infrastruktur, wie Strom und Kehrichtabfuhr, sei zum Beispiel noch das Bestattungsamt in Betrieb. Gezwungenermassen.
«Marcel Bauer gehört mit seinem Alter über 65 selbst zur Risikogruppe. Das macht mir Sorge», sagt Scheidegger. Auch die Tatsache, dass die Regionalpolitik ennet der Grenze durch den Notstand durcheinandergerät, gibt ihm zu denken: «Im Juni steht dort der zweite Wahlgang an, nachdem beim ersten vor zwei Monaten die Wahlbeteiligung aus Furcht vor Ansteckung miserabel war. Niemand kann abschätzen, was dieser zweite Wahlgang für Frankreich für Folgen haben wird. Alles ist in der Schwebe», so Scheidegger.
Den Fuss über die Schwelle setzen darf in Frankreich übrigens nur, wer per Telefon oder Computer vorgängig einen Passierschein gelöst hat und diesen bei sich trägt. Polizeikontrollen sind fast allgegenwärtig und die Busse für Missachtung mit 135 Euro happig. Hingegen sei das Tragen von Masken in der Öffentlichkeit aufgrund von Materialmangel bisher nicht vorgeschrieben, erklärt Bürgermeister Bauer. «Die Gemeinde hat jetzt 40'000 waschbare Masken aus Stoff bestellt, um sie an die Einwohner zu verteilen.» Das ergibt zwei Masken pro Person.
Bauer freut sich, dass Grenchen bisher von der Pandemie wenig betroffen ist und dass die Notstandsbestimmungen hierzulande nicht so streng sind. Damit beides so bleiben kann, ruft er die Grenchner Bevölkerung ebenso wie diejenige von Sélestat dringend dazu auf, die Regeln weiterhin genau zu befolgen.
«Ich weiss, dass sich Ermüdung breitmacht und die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen immer grösser wird. Gerade deshalb dürfen wir nicht nachlassen», appelliert er an die Standhaftigkeit der Bevölkerung. «Seien Sie wachsam, denn niemand weiss, wie sich die Pandemie entwickeln wird.»
Stadtpräsident François Scheidegger ist auch mit den anderen beiden Partnern von Grenchen telefonisch in Kontakt. In der Grenchner Partnerstadt Neckarsulm (D) sei die Situation ähnlich wie in Grenchen: geordnet und ruhig. «Oberbürgermeister Steffen Hertwig berichtet, dass Neckarsulm vom Coronavirus natürlich nicht verschont blieb und auch einige Todesfälle zu beklagen sind. Es gibt aber keine Häufung der Fälle und die Lage ist unter Kontrolle. Viele Industriebetriebe haben Kurzarbeit. Der wirtschaftliche Schaden ist zurzeit nicht absehbar, wird aber mit Sicherheit sehr gross sein», sagt Scheidegger.
Unterschächen, die Patengemeinde von Grenchen, ist zusammen mit dem Rest von Uri in der vorteilhaften Lage, bei der Statistik der Krankheitsfälle landesweit das Schlusslicht zu bilden. Der Urschweizer Kanton machte am Anfang der Krise lediglich mit seinem Vorpreschen zur Ausgangssperre für Senioren von sich reden. Eine Massnahme, die auf Geheiss des Bundes nach wenigen Tagen aufgehoben werden musste. «Das Interessante an dieser Episode ist, dass sie bei den Urner Senioren bis heute nachwirkt. Offenbar überlassen sie nun zumindest beim Einkaufen das Feld den jüngeren Leuten, und viele bleiben auch sonst daheim», sagt Scheidegger. Er ist froh, dass die Krise weder in Unterschächen noch in Neckarsulm so schlimme Ausmasse angenommen hat wie in Sélestat.