150 Jahre vereintes Italien
«Italiens politische Bilanz ist desaströs»

Schriftsteller Franco Supino über die Grenchner Geschichte seiner Familie. Die Stadt sei sehr italienisch gewesen in seiner Jugend, so der Schriftsteller. Mittlerweile aber sei die zweite Generation in der Schweiz angekommen.

Franco Supino
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Franco Supino: «Denkt und bestimmt selber»

Franco Supino: «Denkt und bestimmt selber»

Maddalena Tomazzoli Huber

Meine Mutter kam am 1. Mai 1960 in Grenchen an, sie war zwanzig, mutterseelenallein und verstand kein Wort Deutsch. Sie wurde in einer Barackensiedlung der A. Schild SA untergebracht. Ein Verwandter hatte sie «rufen lassen». Ihre Arbeitskraft war gefragt. Eine Schwester folgte. Es waren Hunderte Italienerinnen und Italiener, die hier, vor allem in der Uhrenindustrie, Arbeit fanden. Sie blieb in Grenchen, bis sie heiratete.

Grenchen war sehr italienisch

1972 zog meine Mutter nach Grenchen zurück. In Solothurn, wo unsere Eltern gewohnt hatten, fanden sie keine Wohnung. Das Grenchen, in dem ich aufwuchs, war sehr italienisch. In der «Italienischschule» traf ich – allein aus meinem Jahrgang – auf über 30 Italienerkinder. Meine Eltern sprachen ausschliesslich Italienisch. Sie trafen sich ausschliesslich mit anderen Italienern. In der Pizzeria Mazzini feierten wir meine erste heilige Kommunion. Ich erinnere mich nicht an viele Feste, die Italiener in Grenchen waren nicht ausgelassen und leichtlebig. Meine Eltern haben viel gearbeitet.

Die Italiener in Grenchen, jene Italiener, die als Gastarbeiter kamen, sind alt geworden. Sie sind pensioniert und teilen ihr gemeinsames Schicksal als Arbeitsmigranten, und dies verbindet. Es sind noch immer viele. Ich staune, was für eine Zusammenhalt und was für einen Gemeinschaftssinn die Italiener in Grenchen eint. Unsere Mutter profitiert, nach dem Tod unseres Vaters, davon.

Die zweite Generation ist in der Schweiz angekommen

Die zweite Generation ist inzwischen in der Schweizer Gesellschaft angekommen. Sie leben ihr Italien, das anders ist, als das ihrer Eltern. Diese Italiener sind Grenchner mit italienischem Pass. Italien, das Italienische ist eine Tradition, die von den einen mehr, von den anderen weniger stark gepflegt wird. Sie haben die grosse Trauer ihrer Eltern, die Rückkehr nicht geschafft zu haben, abgelegt. Sie leben ihr Italien hier.

150 Jahre gibt es das vereinte Italien. Mazzini war 1835 in Grenchen. So alt sind die Beziehungen zwischen Italien und Grenchen. Tradition an sich ist nichts wert. Die Nachkommen, die eine Tradition aufnehmen, schaffen den Wert einer Tradition. Was feiern wir also, wir Italiener – gerade hier in Grenchen?

Italiens politische Bilanz ist desaströs

Als Italiener, der zu stark Schweizer ist, um Italien und die dortigen Entwicklungen in den letzten 150 Jahre zu verstehen, ist einem nicht zum Feiern zu Mute. Die politische Bilanz ist desaströs. Auch in der grössten Festlaune muss man feststellen, dass gewisse politische Hervorbringungen Italiens schlicht eine Schande waren und sind. Nichts begriffen und nichts verwirklicht von dem, was Mazzini wollte! möchte man ausrufen. Es ist ein Irrtum zu meinen, die Vision der von Mazzini gegründeten Einheitsbewegung Giovine Italia sei mit dem Nationalstaat erfüllt worden. Wann bitte wird Italien ein republikanisches Volk, ein Volk von Bürgerinnen und Bürgern sein, das die öffentliche Sache – der res publica – zur eigenen Sache macht?

Italien ist zum Glück viel mehr, ist viel grösser als das Land, das diesen Namen trägt. Mich interessiert das Italien, das ausserhalb Italiens, zum Beispiel in Grenchen, liegt, inzwischen fast mehr. Die Erneuerung Italiens, auf die unsere Landsleute zwischen Como und der Insel Pantelleria verzweifelt warten, muss vom Ausland her angestossen werden. Ich sehe keine andere Hoffnung.

Denkt selber, fühlt selber, bestimmt selber

Es lohnt sich in dieser Hinsicht zu überlegen, was uns die Geschichte der Italiener in Grenchen lehren könnte: Lasst euch nicht von Potentaten unterdrücken, von Führern verführen. Denkt selber, fühlt selber, bestimmt selber. Nehmt die fremden Menschen auf, die zu euch kommen. Macht sie zu Mit-Bürgern. Baut gemeinsam am Haus, das euer gemeinsames Haus ist.

Wenn einmal kein Grenchner mehr weiss, wer dieser streng dreinblickende bärtige Herr mit verschränkten Armen auf dem Sockel des Denkmals an der Kirchstrasse ist - ich bin sicher, es wird Giuseppe Mazzini egal sein. Solange die Menschen, die hier leben, gemeinsam an ihrem Haus bauen.