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Die Schulwegvariante über die Bielstrasse scheint immer beliebter zu werden. Doch eigentlich sind die Schüler gezwungen die Passarelle zu benützen. Eine Vorschrift die vor rund 50 Jahren erlassen wurde.
Mittags an der Schulhaustreppe im Stadtzentrum: Eine Mutter wartet im Auto auf den Parkfeldern der Bielstrasse. Sie sieht ihre Kinder herunterkommen und steigt aus. Ohne auf den Verkehr zu achten, stürmen die zwei Kinder über die Strasse in Mamas Arme. Eine Szene, die sich mit dem nächsten Elterntaxi eine Minute später wiederholt. Der kleine Bub mit Trottinett und die Jugendlichen, die danach ebenfalls die Passerelle mit Verachtung strafen, benützen immerhin den Fussgängerstreifen am Fuss der östlichen Treppe. Ist die Bielstrasse zur neuen, gefährlichen Schulwegvariante geworden?
Einer, der die «Entdeckung» der Bielstrasse als Schulweg mit gemischten Gefühlen beobachtet, ist jedenfalls Rainer Walter. Der pensionierte Lehrer und Historiker hat Bedenken wegen der Sicherheit der Kinder. Aber das ist nicht alles. «So weit ich mich erinnere, sind die Schüler und Schülerinnen verpflichtet, die Passerelle zu benützen, und nach allem, was ich weiss, wurde diese Verfügung nie aufgehoben.» Eine Benützungspflicht – eine Tatsache oder doch nur ein Gerücht?
Die Empfehlung ...
Angesprochen auf die eingangs geschilderte, alltägliche Schulwegszene, reagiert die Leiterin des Schulkreises Zentrum, Jacqueline Bill, überrascht. «In den 16 Jahren, seit ich hier bin, habe ich nie gehört, dass es mit dem Schulweg an der Bielstrasse ein Problem gegeben hat.» Von einer Vorschrift bezüglich der Benützung der Passerelle weiss Jacqueline Bill nichts. «Der Schulweg liegt in der Aufsicht der Eltern und nicht der Schule. Wir versuchen natürlich, die Eltern für Fragen der Verkehrssicherheit zu sensibilisieren und empfehlen den Weg über die Passerelle.»
Auch die Nachfrage bei der Stadt bringt keine Vorschrift für den Schulweg an der Bielstrasse ans Licht. «Das würde mich wundern, wenn es dazu ein formelles Verbot gibt», sagt Stadtschreiberin Luzia Meister. Überhaupt nicht überrascht zeigt sich hingegen der Vizekommandant der Stadtpolizei. Hugo Kohler erinnert sich aus seiner eigenen Schulzeit, dass die Grenchner Schulen früher strikte und detaillierte Vorschriften zum Schulweg erliessen und durchsetzten. «Im Schulhaus Halden war es verboten, mit dem Velo oder Töffli zu kommen, wenn der Schulweg kürzer war als ein Kilometer», erzählt er.
... die einst eine Vorschrift war
Der Besuch im Stadtarchiv löst zumindest die erste Hälfte des Rätsels: Als im August 1958 die Passerelle fertig gebaut war, legte die Schulbehörde fest: «Schüler, welche die Bielstrasse westwärts der Löwenkreuzung zu überschreiten haben, müssen auf ihrem Schulweg ausnahmslos die neue Strassenbrücke benützen.» Drei Jahre später, nachdem die Polizei dem Rektor «eine grosse Zahl Schulkinder» an der Löwenkreuzung gemeldet hatte, verschärfte die Schulbehörde die Vorschrift sogar. Fortan mussten «sämtliche Schüler, die südlich der Durchgangsstrasse wohnen», die Passerelle benützen. Die Nerven lagen derart blank, dass das Rektorat die gesamte erwachsene Einwohnerschaft und besonders die Polizei bat, «fehlbare Schulkinder zurechtzuweisen und wenn nötig sogar anzuzeigen».
Da die Vorschrift in den 50 Jahren in Vergessenheit geraten ist, ist anzunehmen, dass der Passerellen-Zwang nie wirklich aufgehoben wurde. Dabei könnte es sich lohnen, über diese Frage nachzudenken, möchte man meinen. Die Bielstrasse ist nicht mehr die Todesfalle von einst. An der Löwenkreuzung hat nun die Nord-Süd-Achse Vortritt. Auf der Bielstrasse verlangsamen der Fussgängerstreifen mit Insel sowie die Parkfelder an der Südseite den Verkehr zusätzlich.
Einzelne leichtsinnige Familien
Gerade diese Parkfelder sind es allerdings, die Eltern dazu verleiten, das verpönte Elterntaxi aufrechtzuerhalten, gegen das die Schulen und die Polizei mit vereinten Kräften vorgehen. Schulkreisleiterin Jacqueline Bill spricht in diesem Zusammenhang von einem «zähflüssigen Prozess», betont aber, dass ein Grossteil der Eltern mit der Schule an einem Strick zieht.
Die uneinsichtige Minderheit motorisierter Eltern «testet» derweil, wie sicher die Bielstrasse für Kinder geworden ist, die kopflos über die Fahrbahn rennen. Ein Verhalten, dem die Polizei nach Aussage von Hugo Kohler mit Nulltoleranz begegnet. «Für das Nichtbenützen des Fussgängerstreifens gibt es eine Busse von zehn Franken. Kinder unter 15 Jahren müssen anstelle der Busse in ihrer Freizeit Verkehrsunterricht absolvieren.»