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Flavio de Barros aus Grenchen wäre erst in ein paar Monaten von seinem Austauschjahr in Japan zurückgekehrt – jetzt musste es plötzlich schnell gehen.
Der 16-jährige Grenchner Flavio de Barros absolvierte seit letztem August über den Rotary-Club ein Austauschjahr in Japan, ein für ihn unvergessliches Erlebnis, das aber aufgrund des Coronavirus ein abruptes Ende fand.
Wenn man von Austauschschülern hört, die ein Jahr in Familien in anderen Ländern verbringen, denkt man unweigerlich an Amerika, ein lateinamerikanisches oder europäisches Land. Japan ist in diesem Zusammenhang doch eher ungewöhnlich – und spannend zugleich. Flavio hatte sich schon im Vorfeld auf die fremde Kultur und Sprache vorbereitet. «Mit Apps und Lektionen im Internet habe ich selber angefangen, ein wenig Japanisch zu lernen. Denn die Kommunikation, das war die grosse Herausforderung.»
Die moderne japanische Sprache setzt sich zusammen aus einem Teil des mehrere Tausend Schriftzeichen umfassenden Chinesisch und zwei alten, japanischen Sprachen. Flavio war schon vor seiner Reise in der Lage, Japanisch zu lesen – eine reife Leistung für den jungen Mann, der eben erst die obligatorische Schulzeit hinter sich gebracht hatte und im August eine Ausbildung bei Raiffeisen machen will.
In Japan lebte er rund 30 Minuten von der Hauptstadt Tokio in der Präfektur Saitama entfernt bei drei japanischen Familien nacheinander und besuchte dort eine ganz gewöhnliche Schule. «Ich hatte das grosse Glück, dass meine Gastschwester in der ersten Familie ebenfalls schon einen Auslandsaufenthalt in Deutschland hinter sich hatte und gut Deutsch und Englisch sprach.»
Unterricht in Japan sei nicht zu vergleichen mit dem Unterricht, wie wir ihn kennen, sagt Flavio: «Dort herrscht konsequent Frontalunterricht: Der Lehrer steht vorne und erzählt, die Schülerinnen und Schüler hören zu und schreiben auf. Fragen werden keine gestellt.» Im Englischunterricht sei ab und zu er selber der Lehrer gewesen. Er habe die Klasse zusammen mit einem anderen Austauschschüler aus Italien besucht und zusätzlich noch zweimal pro Woche Lektionen in japanischer Konversation absolviert. Den Rest der Zeit habe er frei gehabt und sei öfters nach Tokio gefahren, was sehr eindrücklich gewesen sei. Ganz im Gegensatz zu seinen japanischen Mitschülern, im Übrigen: «Die meisten Schüler haben nach dem obligatorischen Unterricht noch Nachhilfeunterricht. Der dauert bis 22 oder 23 Uhr.»
Überhaupt sei das Leben völlig anders als hier, meint Flavio: «Mit den Schuluniformen und dem stramm in der Reihe stehen, erinnert alles einwenig ans Militär. Für die Jungen ist das Leben schon sehr früh vorgezeichnet. Wir haben bei den 18-Jährigen kurz vor Schulabschluss eine Umfrage gemacht, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Sozusagen alle wussten, dass sie die Uni besuchen und dann in der oder jener Company arbeiten werden.»
Unglaubliches auch in der Arbeitswelt: Seine Gastväter hätten um 4 Uhr morgens mit der Arbeit begonnen und bis 22 Uhr gearbeitet. Das sei völlig normal, denn jedermann arbeite gerne und habe wenig Ferien.
Auf die Frage, ob man etwas von der Überalterung Japans bemerke, meint Flavio: «Rund 60 % der Bevölkerung ist alt, also 65+. Die Populationsrate geht zurück und es werden wenige Kinder geboren. Man sieht auf der Strasse auch wenig junge Leute oder Kinder. Die meisten sind ältere Männer, die zur Arbeit gehen oder von der Arbeit kommen. Die Frauen bleiben eher zu Hause.»
Und wie war es in den Familien? Sehr interessant: während es bei der ersten Familie noch ein weiches Bett gab, habe er bei der zweiten und dritten Familie auf einem traditionellen Futon schlafen müssen. «Das wurde nach einem Monat etwas langweilig, so eine harte Matratze». Das Familienleben bei der dritten Gastfamilie habe sich weitgehend am Boden abgespielt, erklärt er. «Dort gab es nur einen ganz niederen Tisch, keine Stühle. Man sass und ass einfach am Boden.» Im Haushalt helfen, das ging nur bedingt. Ganz und gar nicht bei der Zubereitung der Mahlzeiten: «Japaner lassen sich dabei nicht helfen. Denn schliesslich verstösst das gegen die Anstandsregeln, wenn sich ein Gast noch das eigene Essen zubereiten müsste.» Aber einmal habe er Rösti für die ganze Familie gemacht.
Rotary organisierte Ausflüge für die Austauschschüler nach Kyoto und Hiroshima. Geplant war ausserdem noch ein Trip in den Norden, aber dann kam das Virus. «Die Japaner liessen sich monatelang nicht gross einschränken und nahmen die Sache nicht ernst. Auch als das Kreuzfahrtschiff Diamond Princess Anfang Februar in der Bucht von Tokio unter Quarantäne gestellt wurde, blieben Geschäfte, Restaurants und Bars weiterhin geöffnet.»
Positiv sei, dass die meisten Leute in Japan auch ohne Virus meist mit einer Maske unterwegs seien. Aber er habe das Gefühl, die Zahl der Infizierten sei in Japan auch so lange tief gewesen, weil kein erkrankter Mensch auch getestet wurde, sondern man sie einfach nach Hause geschickt habe. «Erst als die Olympischen Spiele offiziell abgesagt wurden, hat man reagiert.»
Dann sei plötzlich alles sehr schnell gegangen: Sowohl der Rotaryclub als auch seine Eltern meinten, es sei das Beste, wenn er nach Hause in die Schweiz käme. «Ich habe einen der letzten Flüge erwischt, die das Land verliessen und konnte über Frankfurt in die Schweiz zurückfliegen. Für einen Abschied bei meinen Gastfamilien und Mitschülern blieb fast keine Zeit.»
Jetzt sei er zu Hause und werde sein Französisch etwas aufpolieren, bis seine Ausbildung bei der Bank beginnt. «Da ist einiges verloren gegangen in der Zeit ...»