Startseite
Solothurn
Grenchen
Mehr als zwei Wochen nach der Einführung des «Lockdowns» und Versammlungsverbots sorgen die Beamten dafür, dass die Vorgaben des Bundesrats auch eingehalten werden. Dazu gehört das Durchsetzen des Versammlungsverbots und Kontrolle in Geschäften und Grossverteilern.
Es ist 14 Uhr. Im Einsatzfahrzeug der Stadtpolizei Grenchen läuft das Radio, ab und zu kommt eine Meldung über Funk, die an andere Einsatzkräfte adressiert ist. Die beiden Polizeibeamten Marco Regolo und Marc Kohler haben eben ihre Schicht begonnen. Bis tags zuvor fuhr man noch gemeinsame Patrouillen mit der Kantonspolizei, doch im Zeichen der Coronakrise wurden das vorerst ausgesetzt. Ein neuer Dienstplan stellt sicher, dass immer dieselben drei Beamten zusammenarbeiten und es keine weitere Durchmischung gibt. So kann man sicherstellen, dass im Fall einer Infektion eines Beamten nicht gleich der ganze Posten gefährdet wäre und in Quarantäne geschickt werden müsste.
Das Dienstfahrzeug wird in der Marktstrasse abgestellt und es geht zu Fuss in Richtung Marktplatz weiter. «Wir sehen uns auf unserer Tour immer die Hot Spots an», sagt Marc Regolo. Von der Alkiszene rund um die neuen Baumkübel vor der Drogerie Arnold sind gerademal zwei Leute da. Der Eine, ein älterer Typ mit langen, graugelben Haaren und vernarbtem Gesicht, scherzt mit den Beamten: «Abstand halten, auch ihr, ihr seid viel zu nahe beieinander!» Die Beamten nehmens mit Humor und kontern: «Immer schön desinfizieren, gell» – man kennt sich.
Eine Tour durch den Denner am Marktplatz zeigt, auch hier ist nicht viel los, keine drei Leute sind im Laden. «Ihr müsst gegen Abend nochmals vorbeischauen, da sieht es ganz anders aus», sagt die Frau an der Kasse.
Am Busbahnhof warten einige Leute auf ihren Bus, vor einem Take away weiter unten stehen vier jüngere Personen. Aber nirgendwo stehen oder sitzen mehr als fünf Leute beisammen, und die, die man antrifft, halten Abstand. Denn genau darum geht es momentan in erster Linie: Auch die Stadtpolizei Grenchen muss sicherstellen, dass die Anordnungen des Bundesrates eingehalten werden. Und die beiden Beamten haben da schon einige Erfahrungen gemacht in der letzten Woche. «Die meisten Leute, mehr als 90 %, halten sich an die Anordnungen. Aber es gibt eben auch die anderen», sagt Kohler, der sich am Wochenende zuvor auf einer gemeinsamen Patrouille mit der Kapo ein regelrechtes Katz-und-Maus Spiel mit mehreren Gruppen Jugendlicher – bis 16 Personen – geliefert hatte. Allerdings nicht in Grenchen. «Es gibt Junge, die sehen das nicht ein, sind beratungsresistent. Sie sagen, mir geht es ja gut und wenn ich mich anstecke, dann ist es nicht schlimm. Weiter denken sie nicht.»
Die Kontrollfahrt führt zum nächsten Hotspot, der Lindenstrasse. Hier haben sich in den letzten Tagen immer etliche Junge getroffen und sich auf die Treppe zur Schulbibliothek oder vor dem Lindenhaus getroffen. Doch jetzt drückt sich nur ein Jugendlicher auf dem Lehrerparkplatz neben der Alten Turnhalle herum. Rund um die Stadtbibliothek wurde eine Absperrung aufgestellt. «Es ist auch nicht einfach, den jungen Leuten den Ernst der Sache zu erklären, wenn sie zusammenhocken und draussen eine Shisha rauchen, alle noch am selben Schlauch ziehen.» Es gebe aber auch positive Beispiele, erzählt Kohler. So sei er vor ein paar Tagen einer Gruppe Jugendlicher begegnet, vier Stück, die hätten sich auf Steinmäuerchen gesetzt, alle im Abstand von 3-4 Metern zueinander und hätten so den Abend verbracht.
Nächste Station ist der Südbahnhof. Auch hier: wenig los. Am Radio werden die Verkehrsmeldungen verlesen, es ist 15 Uhr. Eine einzige Meldung. «Unglaublich, und das an einem Tag, wo normalerweise sämtliche Schweizer Autobahnen verstopft sind», entfährt es dem einen Beamten.
Im Coop machen Regolo und Kohler eine kurze Inspektion. Jemand hatte sich telefonisch darüber beschwert, dass hier noch Non-Food-Artikel zu kaufen seien und die beiden Polizisten wollen kontrollieren, inwieweit der Grossverteiler nun die Dinge abgetrennt hat, die nicht zu den Gütern des täglichen Bedarfs gehören, wie es in der bundesrätlichen Verordnung heisst. Später, beim Besuch des nächsten Grossverteilers, der Migros, wird das Dilemma offenkundig, das viele Leute verärgert: Irgendwie scheint nicht ganz klar, was als «Güter des täglichen Bedarfs» gilt und was nicht. Im einen Laden sind gewisse Dinge, wie zum Beispiel Neonröhren, im abgesperrten Bereich, im anderen kann man sie noch kaufen (siehe auch separater Artikel).
In der Erläuterung zur bundesrätlichen Verordnung 2 vom 13. März über die Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus, die laufend aktualisiert wird, werden nicht nur die einzelnen Artikel der Verordnung näher kommentiert, sondern unter anderem auch die Güter, deren Verkauf erlaubt oder verboten sind, einigermassen vage beschrieben. Unter Artikel 6, Absatz 2 Bestimmung a-e werden die öffentlichen Einrichtungen – unter anderem Läden und Geschäfte – beschrieben, welche für das Publikum geschlossen werden müssen. Darunter auch Erstaunliches. So sind zum Beispiel unbediente Waschanlagen für Personenwagen und Selbstbedienungs-Blumenfelder verboten.
Unter Absatz 3 wird beschrieben, was in Lebensmittelläden und Warenhäusern noch angeboten werden darf. Zitat: «In Lebensmittelläden und Warenhäusern dürfen nebst Lebensmitteln grundsätzlich nur die Güter des täglichen Bedarfs, z.B. Presseartikel, Tierfutter und andere Güter des täglichen Bedarfs für Tiere, Tabakwaren, Hygieneartikel, Papeterieartikel, offen zugänglich sein.» Blumen, Kleider, Spielwaren, Markenparfümerieartikel – das sind die einzig explizit genannten Warenbereiche – sind verboten und müssen abgedeckt werden. Das Verbot für Blumen kam übrigens auf Initiative des Floristenverbands zustande, der ausdrücklich verlangte, dass Grossverteiler keine Blumen und Pflanzen mehr verkaufen dürfen und in der Folge Tausende von Blumensträussen schweizweit auf dem Kompost landeten.
Also liegt es offenbar mehrheitlich im Ermessen der Grossverteiler zu entscheiden, welche Dinge aus dem Sortiment das Label «für den täglichen Bedarf» erhalten und welche abgedeckt werden.
Das bestätigt auf Anfrage auch Marcel Schlatter, Mediensprecher des Migros Genossenschaftsbundes. Man sei zwar in ständigem Kontakt mit den Behörden und Kontrollorganen. Aber auch die Grossverteiler haben nur das schwammige Dokument des Bundes zur Verfügung. Und dieses, so Schlatter, lasse einen grösseren Interpretationsspielraum offen. Es gehe im Grunde weniger darum, was jetzt noch verkauft werden dürfe und was nicht, sondern eher darum, Menschenansammlungen zu vermeiden.
Die Migros hat den einzelnen Filialen Listen mit den Waren und Sortimentsbereichen zukommen lassen, die noch verkauft werden dürfen. So gehören beispielsweise bei der Migros Pfannen in jeglicher Art und Grösse dazu, ebenso Geschirr, Gläser, Besteck, Plastikboxen und -schachteln. Osterdeko, um dem Schoggihasen ein nettes Nestli zu bauen, das gibt’s aber nicht mehr. Und Spielsachen, die man gerade jetzt für die Kids zu Hause gut gebrauchen könnte, sind verboten. Genauso Geschenkpapier und Glückwunschkarten. Bei Coop sind die Regale weit restriktiver abgedeckt. Dort findet man Pfannen nur noch im abgesperrten Bereich. Glückwunschkarten hingegen sind weiter erhältlich. Unterwäsche gehört laut Schlatter noch zum täglichen Bedarf, diese ist aber sowohl bei Migros wie Coop in Grenchen nur im abgesperrten Bereich zu finden.
In Deutschland, wo auch eine entsprechende Verordnung erlassen wurde, seit dort in fast allen Bundesländern die Geschäfte schliessen mussten, sind beispielsweise Blumen, Kosmetika und Kleider, «soweit sie nach Art und Preis Verbrauchsgütercharakter haben», explizit erlaubt, weil sie dort zu den «Gütern des täglichen Bedarfs» gerechnet werden (Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, Gesamte Rechtsvorschrift für Einkaufszentren-Warenliste-Verordnung, Fassung vom 30.03.2020).
Die beiden Polizisten stellen fest, dass die Grossverteiler sich bemühen, den nicht ganz klaren Vorgaben des Bundes Folge zu leisten. Und Sheriff spielen sei nicht in ihrem Sinn, sagen sie, angesichts der unklaren Vorgaben. Viel mehr Gedanken machen sie sich darüber, dass die Grossverteiler ihr anfängliches System, bei dem jedem Kunden beim Eingang ein Kärtchen überreicht wurde, nachdem er oder sie sich die Hände desinfiziert hat, wieder aufgegeben haben und eine Person am Eingang stattdessen jetzt mit einem Tablet die Leute zählt. «Jetzt desinfizieren sich die Leute die Hände nicht mehr, das ist auch nicht besonders schlau», ist die einhellige Meinung. Kommt dazu, dass die ausgerechnete Höchstmenge an Kunden, die gleichzeitig im Laden sein dürfen – im Migros sind dies 280 Personen – doch eher hoch sei. «Auch wenn sich niemals so viele gleichzeitig hier aufhalten, wie erlaubt sind, aber die Hälfte davon beim Gemüse steht, wird es dann doch sehr eng», meint Regolo. Aber, das stellen beide mit Befriedigung fest: Man tut alles, um das «Social Distancing» zu fördern: sogar die Einkaufswagen vor dem Coop sind mit Abstand voneinander bereitgestellt. Auch die Kunden in den Läden geben sich alle Mühe, Abstand voneinander zu halten.
Was auffällt: Viele Leute kennen die beiden Beamten und grüssen sie freundlich. Nehmen sich Zeit bei ihrem Einkauf für ein paar freundliche Worte. Auch später, auf dem letzten Abschnitt der Patrouille, die der Journalist begleiten darf, immer wieder ein nettes Handzeichen anderer Verkehrsteilnehmer – der grosse Vorteil einer Stadtpolizei, deren Beamte in der Stadt verwurzelt sind.
«Bis jetzt hatten wir wirklich eine ausserordentlich ruhige Woche», sagt Marc Kohler. «Aber es ist noch nicht vorbei. Wenn das Ganze noch ein paar Wochen dauert oder gar verschärft wird, dann nehmen die Fälle von häuslicher Gewalt wahrscheinlich zu und dann müssen wir doch zu Sheriffs werden, die durchgreifen müssen.» Oder die Leute verlören einfach die Geduld und hielten sich nicht mehr an die Vorgaben des Bundes. Denn darin sind sich beide einig: Diese Krise ist noch lange nicht vorbei und erfordert noch einen langen Atem. Keiner der beiden rechnet damit, dass vor Ende Mai Normalität einkehrt. «Da müssen wir jetzt einfach alle durch, so gut als möglich.»
Zu Hause bleiben, Home Office, Social Distancing stehen jetzt zuoberst auf der Agenda. Unter allen Umständen die Verbreitung des Virus vermeiden, so die Devise. Läden, Restaurants und Geschäfte müssen geschlossen bleiben, um Menschenansammlungen zu vermeiden. Insofern macht es Sinn, das Angebot in den noch offenen Läden auf ein Minimum zu beschränken, ohne Zweifel.
Aber macht es auch Sinn, die Ladenflächen in den Warenhäusern zu verkleinern, indem ganze Bereiche abgesperrt werden mit Dingen, die man auch zu den «Gütern des täglichen Gebrauchs» zählen könnte? Wäre es nicht sinnvoller, die Anzahl der Leute zu beschränken, gesonderte Einkaufszeiten für Risikogruppen einzuführen und innerhalb der Läden dafür zu sorgen, dass die Hygiene- und Abstandsregeln auch eingehalten werden? Denn gerade die Grossverteiler machen ihr Geschäft so oder so. Entweder im Laden oder dann online. Und das ist doch irgendwie absurd.
Oliver Menge