Urs und Myriam Gehri ziehen auf ihrem Hof eine Herde Weidegänse auf. Die Tiere ernähren sich nur von frischem Gras und Hafer. Im November werden sie geschlachtet. Gehris haben bereits jetzt Vorbestellungen für Weihnachtsgänse und Daunen erhalten.
Ein altes Sprichwort sagt: Der glücklichste Tag im Leben einer Gans ist der 27. Dezember. Dann hat sie nämlich den Martinstag und Weihnachten überlebt. Der Brauch, an Weihnachten eine Gans in den Ofen zu schieben, ist hierzulande allerdings wenig verbreitet. Auch die Martinsgans kennt man hier kaum, obwohl der Brauch schon aus dem Mittelalter stammt (siehe Kasten).
Und dennoch sieht man kurz vor den Festtagen in Warenhäusern in den letzten Jahren immer mehr der grossen Vögel in den Kühlregalen liegen, zusammen mit den grossen Truthähnen, wie sie die Amerikaner zu Thanksgiving zu verspeisen pflegen. Das hat sicherlich mit der Globalisierung unseres Menuplans und der veränderten Einkaufsgewohnheiten zu tun, bei denen kaum noch darauf geachtet wird, ob ein Produkt saisonal und regional ist oder nicht. Aber auch mit der Tatsache, dass immer mehr Deutsche hier leben und ihre Sitten und Gebräuche aus der Heimat mitgebracht haben. So jedenfalls sieht es Urs Gehri, Landwirt aus Büren, der zusammen mit seiner Frau den Witmatthof bewirtschaftet und seit diesem Frühling eine Herde Weidegänse hält.
Woher genau der Brauch des Gänsebratens am Martinstag, dem 11. November, stammt, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Laut Wikipedia fliessen hier einige Bräuche zusammen: In der von Byzanz beeinflussten Christenheit lag der Martinstag am Beginn einer 40-tägigen Fastenzeit vor Weihnachten, an dem nochmals richtig geschlemmt werden durfte. Er ist Gedenktag des heiligen Martin von Tours. Der Martinstag war aber auch der traditionelle Tag des Zehnten, und Steuern wurden oft in Naturalien bezahlt, häufig auch in Gänsen, da die bevorstehende Winterzeit das Durchfüttern der Tiere nur in beschränkter Zahl möglich machte. An Martini endeten auch oft Dienstverhältnisse, Pacht- Zins, Besoldungsfristen und Landpachtverträge, da der Zeitpunkt dem Anfang und Ende der natürlichen Bewirtschaftungsperiode entsprach. Wie der Name des Heiligen zur Bezeichnung für den Gänsebraten wurde, darüber gibt es mehrere Legenden, die alle mit dem Leben des Martin von Tours zusammenhängen. So habe er sich, bescheiden, wie er war, nicht zum Bischof weihen lassen wollen und sich in einem Gänsestall versteckt. Die Gänse hätten aufgeregt geschnattert und ihn so den Bürgern von Tours verraten.
Um den Gänsebraten an Weihnachten ranken sich ebenfalls viele Legenden. So habe die englische Königin Elisabeth I 1588 beim Verzehr eines Gänsebratens vom Sieg der englischen Flotte über die spanische Armada erfahren und kurzum den Gänsebraten zum Weihnachtsbraten erklärt. Dieser Brauch habe sich dann später auf den Kontinent ausgebreitet. Jetzt essen die Engländer an Weihnachten allerdings Truthahn.
Wahrscheinlicher ist, dass der traditionelle Schweinebraten – die sogenannte Mettensau – der schon seit dem Mittelalter am 25. Dezember als Festmahl nach dem Fastentag, dem 24. Dezember serviert wurde, im Lauf der Industrialisierung vom festlicheren Gänsebraten abgelöst wurde. (om)
Neues Projekt für die Schweiz
Letzten Herbst habe er an einer Info-Veranstaltung teilgenommen, an der Studenten der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften Zollikofen über Weidegänse informierten. In der Ostschweiz wurde nämlich ein Projekt ins Leben gerufen, bei dem sich Landwirte melden konnten, um Weidegänse während knapp einem Jahr bei sich grosszuziehen, bis sie die Schlachtreife erlangt haben. In Österreich seien ähnliche Projekte mit grossem Erfolg durchgeführt worden, sagt Gehri. «Bei der Gelegenheit habe ich auch das erste Mal in meinem Leben Gans gegessen. Und ich muss sagen, es hat mir sehr gut geschmeckt.»
Die drei Studenten haben einen Verein gegründet und eine eigene Homepage, www.weidegans.ch erstellt. Dort sind nebst ein paar grundlegenden Informationen und einem Verzeichnis der Produzenten und der verfügbaren Gänse sogar Rezepte zu finden, wie man eine Gans zubereiten kann. Die Studenten wollen nämlich nicht nur einen weiteren möglichen Wirtschaftszweig in der Landwirtschaft aufzeigen, sondern auch die Kulinarik in der Schweiz erweitern.
Gehrigs beschlossen, am Projekt teilzunehmen und selber Weidegänse grosszuziehen. Denn sie sind davon überzeugt, dass sich die Gänse in der Region gut verkaufen lassen. «Die Nachfrage nach naturnahen Produkten wächst ständig. Und auch die Tatsache, dass hier die Tiere im Gegensatz zu den grossen Produktionsländern Ungarn und Rumänien vergleichsweise artgerecht gehalten werden, hat für die Konsumentinnen und Konsumenten an Bedeutung gewonnen.»
In Ungarn werden Gänse zu Hunderten und Tausenden in Hallen aufgezogen und gemästet. Bei Gehris weiden sie ums Haus herum. «Unsere Gänse fressen nur Gras und kriegen als einziges Zusatzfutter ganzen oder gequetschten Hafer.» Laut Information auf der Webseite des Vereins wird durch das natürliche Futter auch das Fleisch zarter und verliert beim Braten weniger Wasser.
Die Tiere sind den ganzen Tag draussen, die Nacht verbringen sie in einem Stall. Als Wasservögel sind sie auch auf Wasser angewiesen: Im Garten stehen drei Becken, in denen sie rumplantschen, ihr Gefieder und ihre Schnäbel reinigen und auch trinken können. Die beiden Kinder Pascal und Melanie helfen kräftig mit: Das Wasser wird dreimal täglich gewechselt. Stall und Wiese müssen gemistet werden, «denn die Gänse machen unheimlich viel Mist», so Urs Gehri.
Bis jetzt leben noch alle
«Auf den Hof kamen am 28. Mai 54 Tiere, sie waren genau einen Tag alt», erzählt Gehri. Nach etwa drei Wochen im Stall - dort musste eine Wärmelampe installiert werden - durften sie zum ersten Mal auf die Weide. «Wir mussten ständig auf der Hut sein: Der Mäusebussard machte es sich oft ganz in der Nähe auf einem Baum bequem und wartete nur auf einen günstigen Moment, um sich eine kleine Gans zu holen», erzählt Myriam Gehri. Ständig sei sie nach draussen gegangen und habe ihn verjagt.
Und gegen den Fuchs wurde ums Grundstück ein Elektrozaun gezogen. «Der kommt übrigens jetzt noch fast jede Nacht vorbei und schaut, ob er sich was holen kann. Wir haben Kratzspuren am Stall gefunden und die Gänse werden immer laut, wenn er da ist.» Aber bis jetzt hatten weder Fuchs noch Greifvogel Glück, alle 54 Gänse haben überlebt.
Mit rund 35 Wochen, also Anfangs November haben die Gänse ihr Schlachtgewicht erreicht und werden abgeholt und in einem spezialisierten Betrieb geschlachtet und gerupft. «Wir haben bereits jetzt erste Vorbestellungen für Weihnachtsgänse, selbst für die Daunen interessiert sich ein Bettwarenhersteller vom Zürichsee», sagt Urs Gehri, der, abgesehen vom neuesten Erwerbszweig, Mastschweine für COOP Naturaplanaufzieht. Daneben betreibt die Familie Ackerbau, baut Zuckerrüben, Weizen, Gerste und Raps an.
«Dieses Jahr wird es auch für uns und unsere Gäste eine Weihnachtsgans geben, aber ich will dann ganz sicher nicht wissen, welches unserer Tiere das war», sagt Myriam Gehri.