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Roskopf-Uhren waren verpönt, dabei leisteten sie einen grossen Beitrag zum Aufschwung der hiesigen Uhrenindustrie.
«Nein, darüber spricht man nicht!» Das war jeweils die Antwort, die ich von meinem Grossvater, Uhrenfabrikant in Aedermannsdorf, erhielt, wenn ich ihn in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach den Roskopf-Uhren fragte.
In der Nachkriegszeit hatten die Roskopf-Uhren eine ähnliche Funktion wie die Swatch nach der Krise der Uhrenindustrie. Dank ihres modischen Aussehens und ihrem günstigen Preis waren auch die Roskopf-Uhren «Wegbereiter für die Qualitätsuhr», wie es der Verwaltungsratspräsident der Roamer, Leo Meyer, im Jahr 1964 verkündete.
Die Uhrenfabriken Roamer in Solothurn und Lanco in Langendorf, die beide zu ihren besten Zeiten um 1200 bis 1500 Beschäftigte zählten, gehörten zu den frühen Promotoren von relativ billigen, aber qualitativ guten Roskopf-Uhren, wobei sie aber auch Anker-Uhren herstellten.
Roskopf-Uhren waren in der Schweiz zu jener Zeit verpönt und nur auf mehrmaliges Nachfragen holten die Uhrenverkäufer aus den unteren Schubladen der Verkaufsläden diese Uhren hervor, um sie einem zu zeigen.
Das hatte Folgen: Bis heute hat sich sowohl die Wissenschaft als auch die Solothurner Geschichtsschreibung kaum mit diesem Uhrentyp beschäftigt, obwohl dessen eigentliches Produktionszentrum Grenchen und Umgebung war. Rund drei Viertel der in der Schweiz hergestellten Rohwerke für Roskopf-Uhren und rund die Hälfte der fertiggestellten Uhren stammten aus dem Raum Grenchen.
Dabei leisteten die Roskopf-Uhren als Zeitmesser für die arbeitende Bevölkerung einen wichtigen Beitrag zum Aufschwung der Uhrenindustrie im Leberberg. Zwar wurden die technischen Innovationen in der Schweiz entwickelt. Aber es waren die von den USA ausgehenden Ideen und neuen Arbeits-Konzepte, welche die Grundlage für die Massenproduktion von Uhren bereitstellten: Allmählich setzte sich nach der Weltausstellung in Philadelphia im Jahre 1876 in der schweizerischen Industrie und – vor allem auch in der Uhrenindustrie – die Einsicht durch, es müsse vermehrt auf eine mechanisierte und standardisierte Massenproduktion übergegangen werden.
Nur so könne die Nachfrage nach billigen Uhren durch die durch die Industrialisierung stark wachsende Zahl an Lohnempfängern gedeckt und der Konkurrenz aus Amerika begegnet werden.
Billige und zugleich zuverlässige Uhren wurden zunehmend zu einer Notwendigkeit, um den industriellen Aufschwung im Gang zu halten: Um beispielsweise die Pünktlichkeit der Züge zu garantieren, verteilte die eidgenössische Eisenbahndirektion 1910 an die Bahnhofvorstände hochpräzise Uhren der Marke «Zenith», während das Bahnpersonal auf die Uhren der Marke «Roskopf» angewiesen war. Etwas anderes konnten sie sich nicht leisten. Eine «Roskopf»-Uhr kostete in dieser Zeit rund einen Arbeiter-Wochenlohn.
Technisch boten dabei die nach dem System «Roskopf» hergestellten Uhrwerke eine ideale Grundlage. Die Uhren waren einfacher konstruiert, bestanden aus weniger Teilen als die hochklassigen Uhren und eigneten sich daher für die Massenproduktion. Die Roskopf-Uhr war in ihrem Grundkonzept in La Chaux-de-Fonds in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts von Georges-Frédéric Roskopf entwickelt worden.
Aber da die angestrebte industrielle Fertigung in den auf Handwerksbetriebe und kleine Manufakturen ausgerichteten Juratälern auf Widerstand stiess, wurden die ersten grossen Fabriken in der Folge in und um Grenchen errichtet. Bereits 1887 entstand die Uhrenfabrik Ed. Kummer, aus der rund 50 Jahre später die Ebauches Bettlach hervorging, 1898 wurde als Roskopf-Ebauches-Hersteller die A. Michel gegründet, 1899 fanden sich die Baumgartner Frères zur Gründung ihrer Roskopf-Fabrik zusammen und um 1900 gründete Kottmann in Langendorf eine Fabrik für Massenproduktion mit rund 1000 Beschäftigten. Das war damals die grösste Fabrik europaweit.
Damit kam es zu einer gewissen Aufspaltung zwischen den Luxus-Uhrenmarken einerseits, die vorwiegend in Handarbeit in den traditionellen Juratälern hergestellt wurden, und anderseits den auf die industrielle Serienproduktion für billige und mittelklassige Uhren ausgerichteten Fabriken am Jurasüdfuss. Allmählich drängten die Roskopf-Uhren mit dem Stiftanker auch Uhren mit älteren Hemmungen wie etwa Zylinderuhren vom Markt.
Im Gegensatz zu den Uhren mit anderen Ankerhemmungen wurden beim System «Roskopf» fertige Rohwerke und alles Zubehör zunehmend in einem Unternehmen hergestellt und anschliessend dem Etablisseur, der die Uhren fertig zusammenstellte, überlassen. Das heisst, die übrigen Teile des Uhrwerks wie Unruhe mussten nicht wie bei Uhren mit dem «Schweizer Anker» bei unterschiedlichen Unternehmen bezogen werden.
Das Taylor-System der differenzierten Arbeitsteilung mit genau beschriebenen und auch vermassten Bewegungen der Arbeitenden wurde damals in den grösseren Produktionsbetrieben eingeführt. Die neue industrielle und daher ungewohnte Organisation der Produktion der Massenuhren sowie die im Verhältnis zu den übrigen Uhrenregionen tiefen Löhne dürften wesentlich mit dazu beigetragen haben, dass in Grenchen der Generalstreik so grossen Anklang fand.
Dass um die Jahrhundertwende nirgendwo in der Schweiz – gemessen an der industriellen Bevölkerung – so viele Streiks wie in Grenchen und Umgebung stattfanden, ist so auch auf die Durchsetzung der industriellen, arbeitsteiligen und hochdisziplinierenden Produktionsweise in der Grenchner Uhrenindustrie zurückzuführen. Die Uhrenarbeiter, die bisher in kleineren Manufakturen individuell ihre Produkte herstellten, sahen sich mit der Massenproduktion und der Disziplinierung durch die Fabrikarbeit konfrontiert.
Die eigentliche politische Auseinanderentwicklung zwischen den billigen Roskopf-Uhren-Herstellern und den teureren Anker-Uhren-Produzenten spitzte sich in der Zwischenkriegszeit zu und fand ihren Ausdruck im Umgang mit den Kartellvorschriften des Uhrenstatuts: Während sich die höherklassigen Uhrenproduzenten mit grossem Einsatz für ein übergreifendes Kartellrecht in der Uhrenindustrie (Preisbindungen, Exportbewilligungen und -kontrollen, Bewilligungspflicht von Fabrikationserweiterungen und -änderungen) einsetzten, war der Verband der Roskopf-Uhren-Hersteller nur widerstrebend bereit, sich dem zunehmenden Kontrollgeflecht durch den Verband und durch die Behörden zu unterwerfen.
Erst 1939 gelang es, die Unternehmen der Roskopf-Industrie in einem Verband zu vereinigen und den Verband zu verpflichten, die Vorschriften des Uhrenstatuts durchsetzen.
Aber im Allgemeinen wurden diese Vorschriften durch den Roskopf-Hersteller-Verband nur ungenügend kontrolliert. Die Freiheit innerhalb des Verbandes war immer grösser als bei den Zusammenschlüssen der Anker-Uhren-Produzenten.
Allerdings waren dem Verband einzig die Roskopf-Uhren-Hersteller angeschlossen, die ausschliesslich Roskopf-Uhren produzierten. So gab es neben den reinen Roskopf-Uhren-Herstellern noch verschiedene andere Uhren-Unternehmen wie etwa Roamer in Solothurn, die sowohl Roskopf-Uhren als auch Uhren mit den sogenannten Schweizer-Ankern herstellten.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde mit den Ausfuhrkontingenten für Uhren die Zahl der bewilligten Exporte festgelegt. Das hatte zur Folge, dass vor allem die teureren Uhren Exportbewilligungen erhielten, während billigere Uhren wie die des Systems «Roskopf» praktisch vom Markt verschwanden. Die einzelnen Unternehmen behalfen sich in der Folge mit dem Export von Uhrenbestandteilen wie Zünder an die kriegsführenden Länder der unmittelbaren Nachbarschaft.
So exportierte etwa Roamer Bestandteile ins faschistische Italien, während das Roskopf-Unternehmen Ebosa Deutschland belieferte. Andere Roskopf-Unternehmen gingen auf die Produktion von Anker-Uhren über, was vor allem den Unternehmen leicht fiel, die als Manufaktur-Betrieb ihre eigenen Uhren weitgehend selbst herstellten. Gleichzeitig war mit diesem tiefgreifenden Einschnitt in der Produktion der Roskopf-Uhren auch eine geografische Verschiebung der Märkte verbunden: Während vor dem Krieg (1937) noch rund 70 Prozent der Roskopf-Uhren in Europa abgesetzt worden waren, sank dieser Anteil bis 1957 auf knapp 13 Prozent. Neue Absatzziele waren nun die USA und Asien. In der Schweiz lag der Absatz der Roskopf-Uhren so meistens in Grössenordnungen von wenigen Prozenten.
Obwohl die tonangebende Uhrenkammer versuchte, die Billigkonkurrenz mit ihren oft geringeren Qualitätsansprüchen – schliesslich wurden die Roskopf-Uhren zunehmend zu schnell austauschbaren Modeartikeln – möglichst in ihrer Entwicklung zu hemmen, liess sich der Aufschwung der Roskopf-Uhren nicht unterbinden. So gewann in den 50er-Jahren der Export von Roskopf-Uhren an Fahrt – auch im Vergleich zu den Anker-Uhren.
Der Boom der Roskopf-Uhren begann allerdings auf tiefem Niveau. Während sich der Wert der verkauften Roskopf-Uhren von rund 60 Millionen Franken im Jahr 1947 bis 1957 fast verdreifachte (153 Millionen Franken), stieg der Erlös für Ankeruhren in der gleichen Periode bloss um etwas mehr als 70 Prozent von 603 Millionen auf allerdings beachtliche 1041 Millionen.
In diesen Zahlen widerspiegeln sich auch die Verkaufspreise der Uhren: 1957 kostete eine Roskopf-Uhr im Schnitt Fr. 10.60, während eine Anker-Uhr für rund Fr. 40.90 erworben werden konnte. In der gleichen Periode von 1947 bis 1957 nahm die Zahl der verkauften Ankeruhren bloss um das knapp Doppelte zu – von 10 Millionen auf knapp 20 Millionen. Anfangs der 70er-Jahre waren rund 70 Prozent aller verkauften Uhren Roskopf-Uhr.
Dieser Boom hielt an, bis die Quarz-Uhren den Markt eroberten. Sie fegten die Roskopf-Uhren buchstäblich vom Markt. Vor allem Grenchner Roskopf-Unternehmen wie die Baumgartner Frères erreichten ab Ende des zweiten Weltkriegs bis Mitte der 70er-Jahre ein starkes Wachstum, vermochte doch diese Roskopf-Fabrik die Zahl der Beschäftigten von 245 Arbeitskräften im Jahr 1949 auf 1700 im Jahr 1974 zu erhöhen. 1982 ging die Firma Konkurs.
Der Autor ist Wirtschaftshistoriker. Er forschte und publizierte unter anderem zur jüngeren Wirtschaftsgeschichte Solothurns.