Grenchen
Der Schmelztiegel im Westen der Stadt: Das Lingerizquartier ist wohl das ­spannendste von allen

Das Lingerizquartier: spannend, manchmal kontrovers, bestimmt aber lebenswert.

André Weyermann
Drucken
Anschrift der Bushaltestelle an der Lingerizstrasse
18 Bilder
Inline-Skating an der Lingerizstrasse
Die Bauprofile weisen auf ein Bauvorhaben hin
Bushaltestelle an der Lingerizstrasse
Blick in die Flucht der Bielstrasse, die parallel zur grossen Bielstrasse verläuft
Quartierserie Grenchen: Lingerizquartier
Die Familie Mitev geniesst den Feierabend auf dem Balkon an der Bielstrasse
Der Monbijou-Kreisel. Der Anfang oder das Ende des Lingerizquartiers
Blick von der Lingeriz- zur Bielstrasse
Auch viel Grün zwischen den Wohnblocks
Situationsaufnahme an der Lingerizstrasse
Zwischen Lingeriz-und Bielstrasse
An der Karl Mathystrasse angetroffen
Zwischen Lingeriz-und Bielstrasse

Anschrift der Bushaltestelle an der Lingerizstrasse

Hanspeter Bärtschi

Das Lingeriz beginnt im Osten bei der Friedhofstrasse, erstreckt sich entlang der verkehrsberuhigten Bielstrasse und grenzt im Westen unmittelbar und ohne Baulücke an die Berner Gemeinde Lengnau. Der nördliche Teil des Quartiers grenzt an die Grünzone und an das Erholungsgebiet Grot. Südlich befindet sich das Ruffiniquartier, das mit dem Lingeriz verwoben ist, weshalb in diesem Artikel der eine oder andere Ausflug in diese Richtung zu lesen sein wird. Der Schreibende ist in diesem Quartier an der Karl-Mathy-Strasse aufgewachsen und besucht seine alte Heimat heute wieder regelmässig, da er es sich zur Gewohnheit gemacht hat, sein ehemaliges Zuhause als Büro zu verwenden.

André Weyermann ist im Quartier Lingeriz aufgewachsen.

André Weyermann ist im Quartier Lingeriz aufgewachsen.

Oliver Menge

Es hat sich eingebürgert, den Namen Lingeriz zu verwenden (wohl nicht zuletzt der BGU wegen, die das Quartier im Westen unter diesem Namen anfährt). Wir haben das Quartier früher Karl-Mathy genannt oder auch Miba (Miethausbau). Die Immobiliengesellschaft hatte in den 50er-Jahren hochtrabende Pläne und wollte bezahlbaren Wohnraum für die Mittelschicht erbauen. Einiges ist auch realisiert worden, die Miba ging aber schon bald in Konkurs.

Die Grenchner Quartiere

Die Stadt will Grenchen vermehrt als Wohnstandort vermarkten. Ein Anlass, die Quartiere der Uhrenstadt etwas näher unter die Lupe zu nehmen und in einer Serie vorzustellen. Im heutigen, dem letzten Teil unserer Serie, stellen wir das Lingeriz vor, in dem der Autor des heutigen Beitrags, André Weyermann, aufgewachsen ist.

Als kleiner Bub zu Fuss unterwegs ins Quartier

Es muss 1964 gewesen sein, als ich mit meinen Eltern und meinem Bruder vom Südbahnhof kommend (natürlich zu Fuss) meine neue Wohnstätte zum ersten Mal erblickte. Viel ist mir nicht mehr geblieben, nur die Erleichterung endlich angekommen zu sein nach diesem doch anstrengenden Fussmarsch. Immerhin ist mir damals schon aufgefallen, dass neben all den Wohnblöcken auch immer wieder üppiges Grün auszumachen war und noch heute ist.

Das Quartier ist ein Kind der 50er- und der nachfolgenden Jahre. Grenchen boomte, der Wohnungsbau war angesichts steigender Einwohnerzahlen ein absolutes Muss.

Angesprochen hat es vor allem die Arbeiterklasse, allerdings nicht nur. Auch Lehrer, Post- und andere Staatsbeamte und weitere Vertreter der Mittelschicht fanden hier Unterschlupf. Nicht wenige sind geblieben. Die eher moderaten Mietzinse haben naturgemäss auch viel ausländische Menschen und Arbeitskräfte in den Westen gelockt.

Für uns Kinder war das cool. Wir kümmerten uns nicht darum, woher die Spielgefährten kamen, im Gegenteil, wir waren stolz auf unsere Brocken Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch, die wir so ungezwungen spielerisch erlernten. Unsere «Spielwiese» war oft genug die Strasse. Dazu stand in unmittelbarer Nähe ein lehmiger Fussballplatz zur Verfügung. Hier massen wir uns unter anderem mit einem gewissen Heinz Lüdi, der später in der Nationalmannschaft Karriere machen sollte und 1981 zum Fussballer des Jahres gekürt wurde.

Im Winter lenkten wir skibewehrt unsere Schritte ins nahe Grot. Die Piste war nicht allzu lange, dafür ziemlich steil. Ein idealer Ort, um eine der national angesehenen Sportarten zu erlernen. Es ergab sich ein weiterer Vorteil, als wir alt genug waren, unser Hobby auf dem Grenchenberg auszuüben. Die Winter waren meist schneereich und so stand am Schluss eines ereignisreichen Tages einer Abfahrt vom Berg über den Käseweg, die alte Bergstrasse, das Chappeli und eben das Grot bis praktisch vor die Haustüre nichts im Weg.

Irgendeinmal musste der Fussballplatz einer Überbauung weichen. Überhaupt verdichtete sich das Quartier zusehends, die Bevölkerungsstruktur ­änderte sich, vermehrt entdeckten Menschen aus der Türkei, aus dem Balkan, aus Sri Lanka oder aus Afrika die immer noch günstige Wohnlage mit vielen oft geräumigen Balkonen und genügend grüner Freifläche, um sich auch nachbarschaftlich im Freien zu treffen.

Das Quartier hat fast alles, das es braucht

Das Quartier könnte auch autark überleben. Einkaufsmöglichkeiten gibt es genügend. Der Alima Markt an der Karl-Mathy-Strasse ist weit über die Grenzen des Quartiers für seine frischen Obst- und Gemüseprodukte beliebt. Geführt von einer syrischen Familie werden arabische, türkische, balkanische und einheimische Produkte, zumeist Comestibles, aber auch Non-Food-Artikel für den täglichen Gebrauch angeboten. Auch der Denner (vorher das Coop) ist am Rande des Quartiers präsent und durstigen Seelen verspricht das «Monbijou» Linderung. Die Jungen und Jüngsten freuen sich über einen gepflegten Fussballplatz, zwei Kindergarten (Ruffini, Lingeriz) und einen gutbesuchten und ebenso -betreuten Kinderspielplatz.

Mein Bruder und ich gingen gerne einkaufen. In der «Mülchi» der Familie Weber gab es für uns Dreikäsehochs immer ein leckeres Extra. Nicht viel weiter lockten vom Wälchli-Metzger köstliche Wursträder.

Das Gebäude dazwischen hingegen kam mir wie eine «Schlachtbank» vor. Es brauchte schon einige Überredungskünste, mich überhaupt ins Innere zu locken. Dabei hat Coiffeur Fankhauser nur seine Arbeit getan. Allein, er setzte seine Arbeitswerkzeuge für meinen Geschmack einfach viel zu intensiv ein.

Ein besonderes Erlebnis waren die Besuche– meist sonntags– im schon angesprochenen «Monbijou». Mich interessierte dabei weniger das Geplauder an den Tischen. «Mein Revier» war die angrenzende Bäckerei, die akkurat präsentierten Stückli (Patisserie) der Familie Achatz.

Das Lingeriz ist wohl das ­spannendste Quartier Grenchens

Das Lingerizquartier wird auch schon mal als Schmelztiegel Grenchens betiteltet. Mit all seinen Vor- und Nachteilen. Eine Minderheit scheint sich nicht immer an unsere Regeln zu halten (Abfall), ebenfalls eine Minderheit an Immobilienbesitzer versieht ihren eigentlichen Job nur ungenügend.

Im Quartier lässt es sich aber noch heute gut leben. Es ist ein spannender Teil unserer Stadt. So spannend, dass sich eine Abschlussarbeit in Raumplanung an der ETH 2007 damit beschäftigte, so spannend, dass das Quartier an den Wohntagen 2015 ein Thema war, so spannend, aber auch mit Entwicklungspotenzial, dass sich die Behörden immer wieder damit beschäftigt haben, eingriffen, wo sie eingreifen konnten, und das wohl auch in Zukunft auf dem Kompass der Entscheidungsträger bleiben wird.

Und zum Schluss noch dies: Das Lingeriz verfügt auch über eine ansehnliche Fläche Landwirtschaftsland, gleich am östlichen «Eingang» zum Quartier. Bewirtschaftet wird es von Bruno Sperisen, dessen Hof sich im Grot befindet. Insofern ist das Quartier auch typisch für die Stadt, in welcher sich Wohnen und Arbeiten, Gewerbe/Industrie und Landwirtschaft immer wieder auf engstem Raum begegnen.