Startseite
Solothurn
Grenchen
Der Wasserbauverband Alte Aare realisiert gemeinsam mit dem Kanton Bern ein 22-Mio.-Projekt entlang der Alten Aare. Einerseits will man den Hochwasserschutz markant verbessern, andererseits die Alte Aare und die Auenwälder entlang dem Flusslauf revitalisieren.
Wer entlang der Alten Aare bei Dotzigen spaziert, wähnt sich zeitweise mitten auf einem Schlachtfeld: Grosse, alte Bäume krachen donnernd zu Boden. Wo früher Sträucher und Bäume standen, klaffen Wunden im Erdreich.
An manchen Stellen ist der Humus aufgerissen, umgepflügt, die gesamte Vegetation dem Erdboden gleichgemacht. Forstmaschinen haben auf Feld- und Waldwegen tiefe Spuren hinterlassen, und man hört das Röhren von kreischenden Kettensägen, die sich durch Baumstämme fressen. Ein Albtraum, wie mancher Anwohner sagt, der «seinen» Naherholungsraum besucht.
Verantwortlich für das vermeintliche Chaos ist das Projekt «Hochwasserschutz und Revitalisierung Alte Aare». Dieses Projekt ist eine direkte Folge der Überschwemmungen in den Jahren 2006 und 2007, als der Lyssbach, der mitten durch Lyss fliesst und in die Alte Aare mündet, mehrfach über die Ufer trat und grosse Teile des Dorfes überschwemmte. Alleine 2007 entstanden Schäden in der Höhe von rund 100 Mio. Franken.
Als Folge dieser Überschwemmungen wurde einerseits ein Entlastungsstollen realisiert, der seit 2012 verhindert, dass bei Hochwasser der Lyssbach ganze Quartiere des Dorfs überflutet. Andererseits begann man im Rahmen eines grösseren Projekts mit der Planung von Hochwasserschutz- und Revitalisierungsmassnahmen entlang der Alten Aare bis zu deren Einmündung in den Nidau-Büren-Kanal. Diese Arbeiten sind seit Anfang 2015 im Gang und führen zu den «Verwüstungen» im Naturschutzgebiet.
Bund und Kanton sind beteiligt
Alte Aare» heisst die Strecke des ursprünglichen Flusslaufs der Aare zwischen Aarberg und
Büren. Die Aare floss ursprünglich von Aarberg über Lyss und Büren nach
Solothurn. Also am Bielersee vorbei. Aus diesem floss lediglich die kleine Zihl, die ebenfalls bei Büren in die Aare mündete. Die Pegel der drei Juraseen – Bieler-, Neuenburger- und Murtensee – lagen um einiges höher als jetzt. Bei Hochwasser floss ein Grossteil des Wassers wieder zurück und überschwemmte mehr als die Hälfte der bebaubaren Fläche zwischen dem Seeland und Solothurn.
Mit den Juragewässerkorrektionen wurde die Aare im 1878 eröffneten Hag-
neckkanal in den Bielersee abgeleitet und im ab 1868 erstellten Nidau-Büren-Kanal wurde das Wasser von Aare, Broye, Zihl und Schüss in Richtung
Solothurn abgeleitet, reguliert seit 1939 durch das Schleusenwehr Port. Unterhalb von Solothurn wurde 1970 das
Regulierwerk Flumenthal in Betrieb genommen. Die Hochwasserpegel der drei Seen wurden um rund 3,5 Meter abgesenkt. Der einst breite Flusslauf zwischen Aarberg und Meienried wurde auf ein schmales Flüsschen reduziert – die heutige Alte Aare. (om)
Das Projekt gliedert sich, wie der Name schon sagt, in zwei Bereiche: Hochwasserschutz zum einen und eine Revitalisierung der Alten Aare zum anderen. Beide Bereiche hängen zusammen. So werden beispielsweise entlang von Waldrändern neue Schutzdämme mit Aushubmaterial aus dem Flussbett oder neuen, künstlich angelegten Tümpeln und wieder freigelegten Altarmen errichtet. Momentan wird gerodet.
Ein gewisses Mass an Ausholzung sei notwendig, um einer auengerechteren und vielfältigeren Tier-, Pflanzen- und Waldgesellschaft Raum zu geben, heisst es im Projektbeschrieb: «Aus Sicht der Ökologie bedeuten diese Rodungen durchaus einen Mehrwert. Auf zunächst nacktem Boden wachsen zum Teil schon nach ein paar Wochen die ersten Wunschpflanzen (Zielvegetation). An anderen Stellen wird es Monate oder auch Jahre dauern, bis sich die gewünschte Pflanzengesellschaft entwickelt.»
Besichtigung vor Ort
Hermann Käser ist Präsident des Wasserbauverbands Alte Aare. Wir haben ihn vor Ort getroffen und einige der Bauplätze besucht. An der Scheurenstrasse, unmittelbar vor der Brücke eingangs Dotzigen, hat die mit den Arbeiten beauftragte Baufirma einen riesigen Bauplatz eingerichtet. «Hier werden einerseits die Maschinen abgestellt, andererseits wird der Platz als Ablageplatz für Aushubmaterial dienen, und zwar die ganzen fünf Jahre», erklärt Käser.
Gleich westlich dieses Bauplatzes verläuft ein alter, verlandeter Nebenarm der Alten Aare, den man wieder öffnen will. Das alte Flussbett ist inzwischen deutlich sichtbar, denn auf einer Länge von mehreren hundert Metern wurden fast alle Bäume in einer Höhe von etwa einem Meter gefällt und abtransportiert.
«Als hier noch Wald stand, war einem gar nicht bewusst, dass hier früher einmal ein Flussbett war», so Käser. Die Rodungen seien hier notwendig, um dem Fluss wieder Platz zu geben. Als Nächstes werde man die Wurzelstöcke maschinell rausreissen. Sie werden zum Teil später, wenn das Flussbett ausgebaggert ist, wieder hineingelegt und bieten so Lebensraum für Amphibien und Kleinlebewesen.
«Dieser Nebenarm wird nicht immer Wasser führen, sondern nur im Fall eines Hochwassers als zusätzlicher Abfluss dienen, wenn die Alte Aare nicht alles Wasser abführen kann», erklärt Käser. Denn der Bau des Lyssbach-Entlastungsstollens hatte für die weiter unten liegenden Gemeinden Auswirkungen, wie Käser erklärt: «Jetzt kommt das Wasser bei Hochwasser einfach viel schneller.
Es fehlen Überflutungsflächen, und die weiter flussabwärts gelegenen Dörfer Dotzigen, Scheuren und Meienried sind durch Überflutungen gefährdet.»
Radikal-Rodung wegen des Borkenkäfers
Die Alte Aare fliesst neben dem Hornusserplatz Dotzigen vorbei. Etwas weiter flussabwärts mündet der Eichibach in die Alte Aare. Hier hatte man in einem ersten Hochwasserschutzprojekt vor drei Jahren einen neuen Nebenarm geschaffen, weil der Bach ursprünglich in einem rechten Winkel in die Alte Aare einmündete und man auch hier die Fliessgeschwindigkeit etwas vermindern wollte.
Dadurch entstand eine künstliche Insel, weil die beiden Gewässer auf einer Länge von etwa 100 Metern parallel zueinander fliessen. Dem Wasser wurde so auch die Möglichkeit gegeben, den Flusslauf zu verlassen und in den Wald zu fliessen. «Das ist übrigens ein sehr beliebter Badeplatz der Dotziger», sagt Käser. Der Weg dorthin führt allerdings durch ein Gebiet, grösser als ein Fussballfeld, in dem sämtliche Bäume gefällt wurden. Kein einziger Baum hat überlebt. Weshalb diese radikale Massnahme?
Das Auengebiet entlang der Alten Aare wurde 1961 zum ersten Mal vom Kanton Bern unter Naturschutz gestellt und 1992 ins Aueninventar von nationaler Bedeutung aufgenommen. Auen sind Lebensräume, die einem steten Wandel auf natürliche Weise unterworfen sind, weil sie immer wieder überflutet werden. Es gibt feuchte Gebiete mit Tümpeln, stehendem Gewässer, wie alte Flussarme, und trockenere Biotope wie Föhren- und Eichenwälder. Die verschiedenen Lebensräume beherbergen eine grosse Anzahl an geschützten und gefährdeten Tier- und Pflanzenarten. Unter anderem können hier über zehn Amphibienarten und bis dreissig verschiedene Libellenarten beobachtet werden. In gewissen Abschnitten wachsen einheimische Orchideen, die nur hier vorkommen. Das Gebiet der Alten Aare weist für Mittellandverhältnisse eine ausserordentlich hohe Artenvielfalt auf. (om)
Wichtiger Lebensraum
Die Alte Aare ist eines der längsten zusammenhängenden Altwassersysteme der Schweiz und ist ein wichtiger Lebensraum für Fauna und Flora. Seit den Juragewässerkorrektionen bleiben die Wasserstände im Gebiet praktisch konstant – ausser bei den immer häufiger auftretenden Hochwassern – und somit fehlt eine der wichtigsten Voraussetzungen für das erfolgreiche Bestehen einer Auenlandschaft mit Mooren, Tümpeln und trockenen Abschnitten.
Dazu kommt, dass sich entlang der Alten Aare Neophyten, wie der Japanische Staudenknöterich, die Kanadische/Spätblühende Goldrute, das Drüsige Springkraut, das Einjährige Berufkraut und der giftige Riesen-Bärenklau, dessen Saft in Verbindung mit Sonnenlicht zu schweren Hautentzündungen führt, massiv ausgebreitet haben. Die Entfernung der Neophyten ist mühsam und hinterlässt Spuren:
Um beispielsweise den Japanischen Knöterich zu eliminieren, muss man ihn ausgraben und den Aushub unter einer mehrere Meter dicken Erdschicht begraben, damit sich die Pflanze mit ihren bis zu 12 Meter langen Wurzeln nicht wieder ausbreitet. «Wir haben bei einer Dammverstärkung diese Pflanzen ausgegraben, und aus Unachtsamkeit fiel eine Schaufel voll Erde mit Aushubmaterial auf die andere Seite der Strasse. Wenige Wochen später war schon alles voll mit Trieben», so Käser.
Heute um 11 Uhr findet im Industriering Lyss der offizielle Spatenstich für das Projekt statt. Anwesend sind unter anderem die Berner Regierungsrätin Barbara Egger-Jenzer und Josef Hess, Vizedirektor des Bundesamtes für Umwelt (Bafu). Hess leitet die Bereiche «Wald» und «Gefahrenprävention».
Die Artenvielfalt sei zwar vorhanden (siehe Kasten links), aber gefährdet, weil sich die Auenlandschaft nicht wunschgemäss entwickle. «Indem wir dem Fluss gezielt die Möglichkeit wiedergeben, über die Ufer zu treten, können die Auen auch nach der Realisierung der Hochwasserschutzmassnahmen überschwemmt werden. Damit sind die natürlichen Voraussetzungen für die ökologische Entwicklung des Auenwalds gegeben», sagt Käser. Südöstlich des Industriegebiets von Studen ist auch deutlich zu sehen, wie schnell sich die Vegetation erholt:
«Hier haben wir vor einem Jahr den Wald gerodet, den Damm verstärkt und leicht erhöht. Die Aare tritt hier öfters über die Ufer. Kaum ein Jahr später wachsen hier genau die Bäume und Sträucher, die wir uns gewünscht haben, ohne dass irgendwer etwas dafür tun musste. Jetzt müssen wir nur die jungen Triebe gegen den Frass schützen.»
Gezielte Überflutungsgebiete
Aber nicht nur deshalb werden bewusst Veränderungen im Gelände geschaffen, damit der Fluss über die Ufer treten kann: In Studen zweigt beim «Seeteufel» die Strasse in Richtung Busswil ab. Sie führt auf etwa 600 Metern entlang der Alten Aare. «Diese Strasse soll etwas abgesenkt werden.» Gleichzeitig wird man das diesseitige Ufer der Aare abflachen, sodass im Fall eines Jahrhunderthochwassers das Wasser in die grosse Fläche zwischen der Verbindungsstrasse Studen–Büetigen und der Strasse in Richtung Busswil fliessen kann.
«Mit solchen gezielten Überflutungsflächen können wir verhindern, dass wir im unteren Bereich schnell viel Wasser haben.» Mit den betreffenden Burgergemeinden und Landbesitzern wurden die entsprechenden Vereinbarungen getroffen. Falls ihr Land überflutet wird, bezahlt die Versicherung den Schaden.
Bestehende Hochwasserdämme im ganzen Gebiet genügen den Anforderungen nicht mehr und sollen verstärkt werden. Die Gemeinden Worben und Studen wurden zum Teil jetzt schon mit Dämmen gegen Hochwasser geschützt, die ausserhalb des Auwalds verlaufen.