Erdbeben
«Bis gestern hatte ich ein Zittern in den Beinen»

Der Grenchner Sprachstudent Sebastian Regez hat nach der verheerenden Naturkatastrophe Japan verlassen. Er besuchte in Tokio eine Sprachschule und wollte eigentlich noch ein halbes Jahr in Japan bleiben.

Oliver Menge
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Sebastian Regez nimmt per E-Mail und Facebook Kontakt zu Freunden und Bekannten auf. Oliver Menge Sebastian Regez nimmt per E-Mail und Facebook Kontakt zu Freunden und Bekannten auf. Oliver Menge

Sebastian Regez nimmt per E-Mail und Facebook Kontakt zu Freunden und Bekannten auf. Oliver Menge Sebastian Regez nimmt per E-Mail und Facebook Kontakt zu Freunden und Bekannten auf. Oliver Menge

Solothurner Zeitung

«Ich sass am PC, der Fernseher lief, ausnahmsweise. Weil: Ich habe fast nie ferngesehen. Es lief eine Dokumentation, dann plötzlich ein halbtransparent eingeblendetes Fenster mit einer Erdbebenwarnung». So beginnt der 21-jährige Student, der seit Oktober 2009 Tokio sein Zuhause nennt, seine Schilderung der Ereignisse sichtlich bewegt.

Er besuchte dort eine Sprachschule, und eigentlich wollte er noch ein halbes Jahr bleiben. Doch jetzt ist alles anders gekommen als geplant. «Etwas später fing alles an, leicht zu wackeln. Das gehört in Tokio zum Alltag. Als das Wackeln und Schütteln dann wirklich stark wurde, bin ich nach draussen geflüchtet. Fahrräder fielen um, Strommasten schwankten, Ziegel fielen von den Dächern, und es war unglaublich laut. Es klang wie eine gewaltige Explosion.» Man habe kaum noch stehen können, erzählt er. Seine Beine hätten gezittert, einerseits wegen der Angst, andererseits, weil alles gewackelt habe.

Schock des Lebens

Das Ganze habe rund 50 Sekunden gedauert, dann Stille. «So etwas brennt sich richtiggehend im Gedächtnis und im Körper ein, ich hatte noch bis gestern ein Zittern in den Beinen». Das Telefonnetz sei abgeschaltet worden, nur noch Notrufe seien möglich gewesen. Regez ist kurze Zeit später in seine Wohnung zurückgekehrt.

Im Fernsehen sei kurz nach der ersten Warnung eine Tsunami-Warnung ausgegeben worden. Die Menschen wurden aufgefordert, so schnell als möglich vom Meer weg in höher gelegene Gebiete zu flüchten. 30 Minuten später habe ein weiteres, starkes Erdbeben das dreistöckige Haus, in dem Regez lebte, bedrohlich zum Wackeln gebracht. «Ich weiss zwar, dass man eigentlich nicht aus dem Haus hasten, sondern unter einem Tisch oder im Badezimmer Schutz suchen sollte.

Viele Leute in Tokio sind durch herabfallende Trümmer verletzt worden.» Er suchte, wie viele Menschen, den Sammelplatz vor dem Bahnhof auf. Erst nach mehreren Stunden sei er in seine Wohnung zurückgekehrt und habe versucht, sich über die Lage zu informieren. Das sei sehr schwierig und irritierend gewesen, auch in den darauf folgenden Tagen.

Infos aus Schweizer Medien

Vom Atom-GAU in Fukushima habe er eigentlich aus Schweizer Medien erfahren, die japanischen Medien hätten die Vorfälle heruntergespielt und die Leute nur schlecht informiert. Er sei das Gefühl nie losgeworden, alles werde ein wenig verharmlost, sagt Regez. «Es wurde nie gesagt, dass für Tokio eine unmittelbare Gefahr besteht.» Das habe er aus Schweizer Live-Tickern erfahren. Schulkollegen aus China und Südkorea habe er über die Lage informiert – die Medien dort unterliegen einer strengen Zensur. Er habe sie aufgefordert, das Land zu verlassen, weil die Situation wirklich gefährlich werden könnte. Über 200 Nachbeben pro Tag, zum Teil auch sehr starke, hätten die Unsicherheit noch verstärkt.

Bevölkerung reagierte ruhig

Die Japaner hätten bemerkenswert ruhig auf die schrecklichen Vorkommnisse reagiert. Wahrscheinlich auch, weil ihnen die Nachrichten nicht zugänglich gemacht wurden. Die Informationspolitik in Japan lasse keine Panik zu, weil nur wenig deutlich ausgesprochen werde, meint Regez. Die japanische Sprache lässt Formulierungen zu, die «weicher» rüberkommen. Dazu kommt der ungebrochene Technologieglauben und der Stolz der Japaner auf das eigene Land. «Der Autoritätsglaube ist enorm gross: Wenn die Regierung etwas verlautbart, wird das nicht infrage gestellt. Die Disziplin ist enorm. Auch als wegen der Stromabschaltungen nur noch jeder fünfte Zug gefahren ist, hat es, trotz Riesengedränge, keine Klagen, keine lauten Stimmen, keine Schlägereien gegeben.»

Kurzfristig Abreise beschlossen

Innerhalb von zwei Tagen habe er seine Abreise organisiert, die Wohnung gekündigt und seine Siebensachen gepackt. Eigentlich möchte Regez wieder zurück und seine Ausbildung fortsetzen. «Aber solange ich nicht weiss, dass jedes AKW in Japan wirklich sicher ist, werde ich das bleiben lassen.» Die Fehlinformationen der japanischen AKW-Betreiber hätten bei ihm auch ein grosses Misstrauen gegenüber den Schweizer Atomkraftwerken geweckt.

Sebastian Regez ist sichtlich mitgenommen. Die Bestürzung über die unzähligen Opfer und der Schmerz sind gross, lassen sich nicht mehr in Worte fassen. Er selber kennt Leute, die vom Erdbeben direkt betroffen sind. Nicht im Nordosten, wo der Tsunami Tausenden von Menschen das Leben gekostet hat, aber in Tokio, wo Häuser massiv beschädigt wurden. Er informiert sich nicht mehr über die aktuelle Situation, schaut kaum fern. Aber er telefoniert regelmässig mit Bekannten und Freunden in Japan. Und über Facebook und E-Mail kontaktiert er hier in der Schweiz seine Leute und informiert sie, dass er wieder zu Hause sei und es ihm gut gehe.