Schüleraustausch
Bei Hühner-Po oder Reis mit gestocktem Blut verging dem Grenchner der Appetit

Der Grenchner Gymnasiast Enrico Colaci hat ein Jahr im Schüleraustausch in Taipei verbracht.

Daniela Deck
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Enrico Colaci machte sein Austauschjahr im Taiwan und lernt Chinesisch.

Enrico Colaci machte sein Austauschjahr im Taiwan und lernt Chinesisch.

Hanspeter Bärtschi

Enrico Colaci lernt chinesisch – die Sprache, die man oft als Mandarin bezeichnet, die eigentlich aber «Putanghua» heisst. Das letzte Schuljahr hat der 17-jährige Mittelschüler zur Horizonterweiterung und Förderung seiner Sprachkenntnisse in Taipei verbracht, der Hauptstadt von Taiwan. Dank dem Schüleraustausch bekam er Einblick in eine Gesellschaft, die allzu oft im Schatten von China steht. Heimgekommen ist der junge Grenchner mit einer Reihe interessanter Erkenntnisse über Sitten, Traditionen, Bildungsdiktate und den öffentlichen Verkehr in der 9-Millionen-Metropole.

«In Taiwan sind Jugendliche in meinem Alter noch sehr kindlich. Verglichen mit der Schweizer Jugend sind sie wenig selbstständig», hat Enrico Colaci beobachtet. Entsprechend hätten seine Pläne in der Freizeit die Stadt auf eigene Faust zu erkunden, die Gasteltern verunsichert. Im Rückblick sieht er keinen Grund für die Bedenken: «Taipei ist sehr sicher, sauber und gut organisiert. Als ich einmal mein Handy in der U-Bahn vergessen hatte, habe ich es im Fundbüro kurz darauf zurückbekommen.»

Abenteuerliche Busfahrten und standfeste Rentner

Wenn einmal etwas kaputt geht, zum Beispiel ein Leihvelo, brauche man als User nur den Sattel verkehrt herum zu drehen und innerhalb einer Stunde werde das Velo von einem Mechaniker der städtischen Verkehrsbetriebe geflickt.

Dennoch gibt es auch in dieser Stadt das eine oder andere kleine Abenteuer zu erleben: «Die Buschauffeure fahren wie die Henker und halten jeweils nur für ein paar Sekunden, und zwar mitten im Verkehr. Beim Einsteigen gilt hier ‹sitz oder stürz›. Ich habe mich oft gefragt, wie die Rentner damit zurechtkommen, aber die machen das prima.» Und wer wirklich gebrechlich ist, nehme ohnehin die U-Bahn.

Enrico Colaci ist überzeugt, dass die Schweiz von Taiwan einiges lernen könnte, besonders den höflichen und respektvollen Umgang vieler Menschen miteinander auf engstem Raum. «Ich finde, dass die asiatische Kultur bei uns unterrepräsentiert ist», sagt der Mittelschüler. «Etwas mehr davon täte uns allen gut.»

Leistungsdruck und Jugendsuizide

In der Schule – eine Art Berufsmittelschule für Baugewerbe und Architektur – sah sich Enrico Colaci mit strikter Disziplin, Frontalunterricht und einem immensen Leistungsdruck konfrontiert, zumindest für seine einheimischen Klassenkameraden. Diese mussten nach dem Unterricht zusätzlich in eine Nachhilfeschule und lernten anschliessend daheim noch mehrere Stunden für die Aufnahmeprüfung der Uni.

«Bin ich froh, ist unser Schulsystem nicht so kompetitiv. Zwei meiner taiwanesischen Mitschüler leben bereits nicht mehr. Sie haben sich das Leben genommen, weil sie den Stress nicht mehr ertrugen», sagt er. Inmitten der legeren Ausgehszene im «Baracoa» ist ein solch düsteres Szenario kaum vorstellbar.

Chinesisch lernen in der Freizeit

Enrico Colaci sass jeden Tag die Schulstunden ab und bemühte sich, in groben Linien dem Thema zu folgen. Nur eine Ausnahme gab es: Wenn der Wind den Smog vom benachbarten Shanghai herüberdrückte, blieb Enrico mit seinem Inhalator bei geschlossener Tür und Fenstern in seinem Zimmer. Als Asthmatiker habe er da keine andere Wahl gehabt.

In der Freizeit büffelte er oft mit einer chilenischen Austauschstudentin aus einer anderen Schule Schriftzeichen und Vokabeln. «Manche der 200 Austauschschüler machten lieber Party. Doch wir beide wollten unser Chinesisch verbessern.» Die Prüfung zum B1-Niveau habe er in Taiwan ganz knapp nicht bestanden. «Inzwischen habe ich dank meiner Chinesischlehrerin in Solothurn das B1-Level erreicht», ist Enrico Colaci überzeugt.

Dass selbst der Englischunterricht auf Chinesisch stattfindet, war eine Enttäuschung für ihn. «Aber es erklärt, wieso die Taiwanesen in der Theorie top Grammatikkenntnisse haben und in der Praxis kaum einen einfachen englischen Satz verstehen», kommentiert er die Diskrepanz schmunzelnd.

Ehrenrituale schaffen Zusammenhalt

Zweimal pro Woche sei die ganze Schule in der Sporthalle zum Ehrenritual angetreten. Geehrt wurden Staatsgründer Chiang Kai-Scheck und Sun-Yat-Sen, der Gründer der modernen chinesischen Gesellschaft. «Die beiden schaffen die Identifikation, die wir Schweizer zum Beispiel aus den Alpen ziehen.»

Was das Essen angeht, so entdeckte Enrico Colaci einen weiteren gesellschaftlichen Aspekt, von dem wir uns hierzulande eine Scheibe abschneiden könnten. «In Taiwan kennen sie absolut keinen Foodwaste. Es gilt das Sprichwort ‹wir essen alles ausser Flugzeugen, Schiffen und Autos’ – und wie gründlich: sie brechen sogar die Knochen auf, um an das Mark zu kommen.» Die Kehrseite der Medaille: Bei Hühner-Po oder Reis mit gestocktem Blut verging dem jungen Schweizer der Appetit. «Da ziehe ich die moderne chinesische Küche, wie wir sie aus Restaurants kennen, entschieden vor.»

Gute Betreuung durch die Organisatoren

Das «grosse» China wäre für Enrico Colaci keine Option gewesen: «Ich hätte keinen Austausch in einem Land machen wollen, das nicht demokratisch regiert wird.» Ein Anliegen, das er mit dem Rotary-Club teilt, der ihm den Schüleraustausch ermöglicht hat. «Ich bin den Rotariern dankbar für die Gelegenheit ein Jahr in Taiwan zu verbringen. Sie haben mich unterstützt, vor Ort und auch in der Schweiz, und mir rasch geholfen, wenn es Probleme mit Gastfamilien gab.
Solche hat Enrico Colaci mehrfach erlebt, was seiner erfreulichen Bilanz des Auslandjahres aber keinen Abbruch tut. Erst eine Messi-Familie, dann ein jähzorniger Gastvater. In beiden Fällen habe er die Familie schnell und unkompliziert wechseln können. So wohnte er statt wie geplant in drei Familien, in sechs. «Ausser einer Familie, die zum Mittelstand gehörte und mir wertvollen Einblick in die Alltagsfreuden und -sorgen gab, waren die Gastfamilien sehr vermögend. Die Wohnblöcke, in denen sie wohnen, hatten einen Swimmingpool.»
Nächstes Jahr möchte Enrico Colaci, der halb Schweizer und halb Italiener ist, seinen Eltern Taiwan zeigen. Bis dahin will er fleissig weiterhin chinesisch lernen. Sein nächstes Etappenziel: Das Niveau B2.