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Kurz vor dem Bahnhof Grenchen Nord rast der Zug haarscharf an einem Haus vorbei. Wir wollten wissen, wer in diesem Haus lebt und trafen dabei auf Cristiany Grossrieder und ihre Geschichte.
Der Zug verlässt den Grenchenbergtunnel, die ersten Häuser Grenchens ziehen vorbei. Er rast an einer Hausfassade vorbei. Das war knapp! Höchstens zwei Meter lagen zwischen Zug und Haus. In einem der Fenster brannte Licht, war da nicht die Silhouette einer jungen Frau zu erkennen? «Nächster Halt, Grenchen Nord», erklingt die Stimme aus den Lautsprechern. Wer wohl in dem Haus lebt?
Eine Woche später ist der Bahnhof «Grenchen Nord» menschenleer, der Weg zum Haus führt an einem verlassenen Spielplatz vorbei. In einem der Schaufenster hat jemand alte Elektrogeräte aufgetürmt. «Natürlich können Sie vorbeikommen», hatte die Frau am anderen Ende des Telefons gesagt. «Es ist ja in der Tat etwas speziell, so nah an den Gleisen zu wohnen», fügte sie an.
Am Ende der Strasse erscheint die steinerne Bahnbrücke, in die Rundbögen hat man frech Garagen eingebaut. Die Gleise führen mitten durch die Stadt, so als hätten sie sich ihren Weg selbst gesucht. Dort in der Ecke steht es, das Haus an der Kirchstrasse 57. Eingeklemmt zwischen Strasse und Bahnbrücke, versucht es sich möglichst schmal zu machen. Wer hier wohnt, sollte wohl kein empfindliches Gehör haben.
Neben der Haustür hat es viele Klingeln. Erstaunlich, wie viele Menschen überhaupt Platz haben in diesem schmalen Haus. Der Schritt über die Türschwelle ist ein Schritt in die Stille, die dicken Steinmauern vermitteln Schutz. Farbe blättert von der Fassade. Das vergitterte Fenster lässt nur wenig Licht in den Gang, es erinnert an eine Knastzelle. Die einzige Dekoration im Treppenhaus ist ein Feuerlöscher.
Der Blick aus dem oberen Fenster lässt Leitungen und Stahlmasten erkennen. Direkt vor dem Fenster hängt ein warnendes Schild: «Lebensgefahr. Leitungen nicht berühren». An der Wohnungstür im ersten Stock hängt ein weiteres Schild: «Die Welt ist ein Irrenhaus und hier ist die Zentrale». Ob dieser Besuch eine gute Idee war? Einmal klingeln, dann geht die Tür auf. Ein blonder Haarschopf erscheint im Türspalt, dazu das freundliche Gesicht einer Frau. Warmes Licht strömt aus der Wohnung und der Duft von Kerzenwachs.
Die Wohnung ist all das, was man von aussen als letztes erwarten würde: hell, einladend und grosszügig. Cristiany Grossrieder ist eigentlich gelernte OP-Schwester. Zurzeit arbeitet sie aber als Tagesmutter, Nageldesignerin, Fusspflegerin und Serviceangestellte. Vor acht Jahren ist sie mit ihren beiden Kindern von Freiburg nach Grenchen gezogen. «Es war ein Neuanfang», erzählt sie und giesst kochendes Wasser in eine Teekanne.
Nach der Trennung von ihrem Ex-Mann sei es das einzig Richtige gewesen. «Ich liebe dieses Haus, es ist perfekt für uns», sagt sie und lächelt. Wie ist das möglich? Hunderte Menschen fahren halbstündlich quasi durch ihr Wohnzimmer und die Umgebung lädt auch nicht gerade zu idyllischen Spaziergängen ein. Klar, die ersten Wochen seien gewöhnungsbedürftig gewesen; am Anfang seien die Kinder in der Nacht oft aufgewacht. Aber inzwischen gehöre es dazu, «es wäre komisch, wenn plötzlich kein Zug mehr vorbeirattern würde». Cristiany Grossrieder wirkt, als wäre sie schwer aus der Fassung zu bringen.
Dann beginnt sie zu erzählen. Grossrieder ist vor 43 Jahren in São Paulo auf die Welt gekommen. «Ich hatte eine gute Kindheit, mir fehlte es an nichts». Sie schloss die Ausbildung zur OP-Schwester ab, hatte viele Freunde und ein sorgenfreies Leben. «Mit 22 verliebte ich mich in einen Brasilianer», erzählt Grossrieder. Aber nicht in einem Ton, in welchem man von seiner grossen Liebe erzählt. «Mein Vater war dagegen, hat versucht, mich von ihm fernzuhalten».
Nicht etwa aufgrund der Religion, sondern weil er arbeitslos war und aus armen Verhältnissen kam. «Ich wiedersetzte mich und traf ihn weiter», erinnert sie sich. Eines Tages habe sie in ihrem Zimmer zwei gepackte Koffer vorgefunden. Ihre Eltern schickten sie zu Arztkollegen nach Biel. «Das war brutal. Von einem Tag auf den anderen verlor ich meine Freunde, meine Arbeit und mein ganzes Umfeld». Inzwischen hat sie sich an den Küchentisch gesetzt, in den Händen eine Tasse Tee. Eigentlich hätte sie nur ein Jahr in der Schweiz bleiben müssen. Doch sie verliebte sich in den Vater ihrer Kinder und arbeitete bei ihm im Geschäft. Sie heirateten.
Warum Cristiany Grossrieder nach der Scheidung nicht nach Brasilien zurückkehrte? Dort wo sie herkomme sei es unmöglich, alleine mit dem Bus zur Schule zu fahren. «An jeder Ecke steht Sicherheitspersonal», sagt Grossrieder und legt ihre Stirn in Falten. Das Bild auf den Strassen sei geprägt von hohen Mauern und elektrischen Zäunen, von Angst und Gewalt. «Freiheit bedeutet für mich, keine Angst zu haben, wenn die Kinder alleine aus dem Haus gehen».
In der Schweiz fühle sie sich sicher und schliesslich seien ihre Kinder hier zu Hause. Wenn man beide Seiten des Lebens kennt, lernt man die guten zu schätzen. Natürlich vermisst sie ihre Familie, die Sonne und das Meer. Der Nebel in Grenchen macht ihr manchmal schon zu schaffen. «Aber das Schöne findest du überall. Wir haben die Aare, den Grenchenberg und den Bielersee». Ausserdem liebt sie den Winter in der Schweiz.
Grossrieder tritt auf den Balkon hinaus und zündet sich eine Zigarette an. Direkt vor ihr liegen die Gleise, aber ihr Blick schweift über die Dächer der verregneten Stadt. Manchmal träumt sie davon, einfach auf den nächsten Zug aufzuspringen und ins Tessin zu fahren. Oder in ein kleines Dorf in Indien. Ihre Augen beginnen zu leuchten. «Mich interessiert das echte Leben, wie die Menschen auf dem Land arbeiten oder wie man dort Brot backt». Sie ist fasziniert von östlichen Denkweisen, aber auch vom Jakobsweg, dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela in Spanien. «Da geht es nur darum, zu wandern und die innere Ruhe zu finden».
Inzwischen sind ihre beiden Kinder von der Schule nach Hause gekommen. Saskia ist 16 Jahre alt, ihr Bruder Noah ist 13. Saskias Zimmerfenster ist jenes, welches am nächsten an den Gleisen liegt. Es beginnt leise zu rauschen, immer lauter es beginnt zu rattern und plötzlich rast ein Schnellzug direkt vor der Scheibe durch. Wenige Sekunden nur, man kann kaum die Gesichter erkennen. Dann ist es vorbei, als wäre nichts gewesen. Den Kopf aus dem Fenster zu strecken, wäre hier lebensgefährlich.
Ihr Zimmer hat Saskia modern eingerichtet, an der Wand steht eine schnörkeligen Schminkkommode mit goldenen Griffen. Auf ihrem Nachttisch stapeln sich Bücher. Diesen Sommer tritt sie die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit an. «Und irgendwann möchte ich auf Reisen gehen. Oder nach Afrika, um dort den Menschen zu helfen», sagt sie.
Noah weiss zwar schon, dass er einmal Informatiker werden will. Für ihn sind zurzeit aber andere Dinge wichtig: Fussball spielen, gamen und mit Kollegen rausgehen. «Mein grösstes Vorbild ist Cristiano Ronaldo». Sein Zimmer ist praktisch eingerichtet; Keine Poster, keine Bilder, dafür ein riesiger Bildschirm. Die Bettdecke trägt das Logo seines Lieblingsfussballvereins: Real Madrid.
Cristiany Grossrieder spricht auf Portugiesisch mit jemandem am Telefon und hantiert dabei in der Küche. Unten auf der Strasse fährt ein Lastwagen durch, der Wohnzimmerboden zittert. Überall in der Wohnung hängen Schilder: «Do what you want» oder «Home is where the heart is». Wie Dogmen hängen sie da, weisen auf die positive Lebenshaltung der strahlenden Frau hin.
Grossrieder ist nicht nur Mutter, sondern auch Tagesmutter von zwei Kleinkindern. Natürlich sei es nicht immer einfach alleine mit den Kindern und den verschiedenen Jobs. Aber sie würde sich trotzdem als eine glückliche Person bezeichnen. «Ich glaube, Gutes tun für die Menschen in seiner Umgebung macht glücklich», sagt sie. Und zu vergeben ist wichtig, das schaffe positive Energie. Und ja, auch ihren Eltern habe sie vergeben. «Aus heutiger Sicht würde ich sogar sagen, sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Auch wenn der Schmerz damals kaum erträglich war, es ist gut so».
Wieder rast ein Schnellzug am Fenster vorbei, diesmal in die andere Richtung. Ob sie sich manchmal frage, was die Menschen in den Zügen denken, wenn sie am Haus vorbeidonnern? «Ja, sie denken sicher: Die spinnen, an so einem Ort zu leben.»