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Heute jährt sich der Tag zum 80. Mal, als tausende Polen mit der französischen Armee im Berner Jura die Grenze überschritten. Über 3500 von ihnen waren zwischen Herbst 1940 und Frühling 1942 im «Concentrationslager» Büren a. A. interniert. Ein Luzerner setzt sich für das Andenken ans Polen-Lager im Häftli ein.
In Büren liegt Zeitgeschichte brach. Nicht nur das Schweizer Kriegsgeschehen, sondern auch Schlüsselmomente für das Verständnis der Weltgeschichte – bis hin zur aktuellen Krise. Davon ist der Historiker Jürg Stadelmann überzeugt. Er setzt sich seit 30 Jahren für die Aufarbeitung des «Polenlagers» und das Andenken im Häftli ein.
Warum heisst Ihr Buch, das Sie 1999 veröffentlicht haben, ausgerechnet «Concentrationslager Büren»?
Jürg Stadelmann: Weil es so genannt wurde und nach dem Vorbild deutscher Lager angelegt worden war und so aussah.
Damit werden Schreckensbilder heraufbeschworen.
Ich weiss nicht, ob ich das Buch heute noch so betiteln würde. Als wir vor 30 Jahren mit der Aufarbeitung der Geschichte in Büren begonnen hatten, haben viele Zeitzeugen, ehemalige Internierte, wie auch Bürerinnen und Bürer aus der Kriegszeit, noch gelebt. Deren Schilderungen bestätigten den Titel. Heute muss die Geschichte ergänzend erzählt werden. Denn Geschichte wird gemacht, von jeder Generation neu. In Büren lässt sich aufzeigen, wie man dort gelernt hat, dass man nicht so mit Schutzsuchenden umgehen darf.
Im Sommer 1940 errichteten 300 polnische Militärgefangene im Häftli in Büren ein Internierungslager für 6000 bis 8000 Kriegsgefangene mit einem Wachturm, Stacheldrahtzaun und Flutlichtanlage. Das Lager war das grösste landesweit. Bewacht und verwaltet wurde es abwechselnd von Bataillonen aus der ganzen Schweiz. Teilweise wurden Hundestaffeln zur Bewachung eingesetzt. Die Militärunterkünfte wurden direkt neben dem «Concentrationslager» gebaut, wie es damals genannt wurde.
Zuerst war im Häftli ein Teil der gut 12'000 Polen des 45. Armeekorps untergebracht, die als Teil der 42'300-köpfigen französischen Truppe am 20. und 21. Juni 1940 im Berner Jura die Grenze überschritten hatten. Später waren dort jüdische Flüchtlinge untergebracht, russische Armeeangehörige und andere Nationalitäten. Das Lager diente zeitweise als Entlausungsstation, ehe es 1946 abgebaut und der Boden den zuvor enteigneten Bauern zurückgegeben wurde. Oben im Stedtli, nordöstlich des Mahnmals der Feder, existierte in den Kriegsjahren zudem ein kleines Spitallager für kranke Kriegsgefangene und Flüchtlinge, das einigen Dutzend Personen Platz bot.
Kommen wir zu den Polen, die für Büren eine besondere Bedeutung hatten.
Zur Feier «50 Jahre Grenzübertritt», der 1990 in Rapperswil (SG), stattfand, fuhr ein Dutzend der einstigen Internierten mit mir nach Büren. Ihre Gefühle auf dem Areal waren berührend. Plötzlich begannen sie zu erzählen, und das ist wichtig. Denn im kollektiven Gedächtnis von Polen lebte bis dahin die Erzählung an den Grenzübertritt, der freundliche Empfang durch die Bevölkerung, und dann erst wieder die Zeit nach dem Krieg mit der Integration in die aufstrebende Gesellschaft. Das Lager in Büren war ein blinder Fleck: ein primitives Dach über dem Kopf, zu essen – manchmal nicht genug und entsetzliche Langeweile: keine Perspektive, Angst um die Angehörigen daheim und die Trauer über ein Leben auf dem Abstellgleis. Vergessen Sie nicht: Die Polen waren junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren, eine Zeit, in der normalerweise für das ganze Leben Weichen gestellt werden.
Wie erklären Sie sich den blinden Fleck?
Für die polnischen Internierten galt dasselbe wie für die gesamte Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Die Erkenntnis: Wir sind mit dem Leben davongekommen, um es in Anlehnung an Dürrenmatt zu sagen. Das ist alles andere als heroisch. Aber es ist eine Leistung.
Wie sind Sie als Luzerner zum Internierungslager Büren gekommen?
Aus linken politischen Kreisen hörte ich nach meinem Doktorat etwas munkeln von einem riesigen Lager in Büren, das immer mehr in Vergessenheit gerate und welche Schande das sei, dass sich niemand darum kümmert. In der Heimatpflege Büren habe ich Interessierte gefunden, die diese Geschichte erzählen wollten. Büren ist im Positiven, wie im Negativen ein Fanal. – Ich bin zurückhaltend mit dem Begriff «negativ»: Im Krieg stand das für Völkermord, Folter und Menschenverachtung. Nichts von dem hat in Büren stattgefunden. Der Umgang mit den Internierten war ungeschickt und wenig durchdacht, aber nicht bösartig.
Nicht alle Leute wollen an das Lager erinnert werden. Welches Recht zu vergessen haben die Direktbetroffenen, die Nachkommen der Internierten und welches die Schweiz?
Wenn unsere Gesellschaft Büren vergisst, gibt sie den Schlüssel zum Verständnis vieler Ereignisse aus der Hand. Es geht ja nicht nur um den Zweiten Weltkrieg. Büren bietet die Chance, zum Spiegel und Brennpunkt für viele Themen zu werden, etwa für den Kalten Krieg – mit dem Handel über die Heimkehr der internierten Russen, die von der Schweiz geopfert wurden, um diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion zu erhalten. Büren spiegelt auch das Elsass und seine komplizierte Geschichte. Übrigens ist das Lager ein Lehrstück dafür, wie die Schweiz im Krisenmodus funktioniert: ausprobieren, ausbauen, was sich bewährt und aufgeben, was nicht funktioniert. Gerade im Hinblick auf die Coronakrise zeigt sich das ja wieder.
Inwiefern?
Desinfektion und Hygiene waren im Lager zentral. Gegen Ende des Krieges wurde es als Quarantäne- und Entlausungslager für ankommende Flüchtlinge und Kriegsgefangene genutzt. Übrigens war das Lager zugleich eine ingenieurtechnische Meisterleistung und eine architektonische Katastrophe.
Das müssen Sie erklären.
Der Ort im Häftli war brillant gewählt, ein mächtiges Geviert, geschützt wie eine Wasserburg. So genügte ein einziger Wachtturm, um das ganze Gelände zu überwachen. Das Abwassersystem war hervorragend konzipiert. Die tristen Baracken und der doppelte Stacheldrahtzaun waren eine komplette Fehlleistung. Gerade in Kombination mit der Unterbeschäftigung der Polen im ersten Jahr war die Infrastruktur Gift für die Moral. Es ist ein Glück, dass bei der Revolte, die daraus resultierte, niemand starb. Aber es gab Verletzte, es wurde geschossen. Dass der Ort ursprünglich gewählt wurde, weil die Internierten zum Kanalbau an der Aare eingesetzt werden sollten, ist eine Fussnote; der Kanal wurde nie gebaut. Am besten erging es denen, die auf dem «Polenmarkt» vor dem Hotel Post bei Bauern Arbeit fanden; Büren hatte damals 2000 Einwohner. Die Wenigen, die das Glück hatten, Familienanschluss zu finden, hielten ihre Bürener «Eltern» zeitlebens in höchsten Ehren.
Wie soll die Erinnerung stattfinden? Vom Lager steht nichts mehr ...
... mit Ausnahme der Wäscherei, die den Besitzern heute als Abstellkammer dient. Mithilfe weniger Stelen und moderner Kommunikationsmittel könnte die ganze Geschichte vor Ort erzählt und Bilder gezeigt werden. Am besten wäre eine App, die über QR-Codes auf den Stelen zugänglich ist. Es ist wichtig, dass gerade Jugendliche und junge Erwachsene die Geschichte erfahren, nachdenken und Fragen stellen, haben sie doch mit der Coronakrise einen Einschnitt im Leben erfahren, der uns allen seit dem Kriegsende undenkbar schien.
Jürg Stadelmann ist der Verfasser des Buches «Concentrationslager Büren an der Aare 1940-1946». Der promovierte Historiker betreibt in Luzern ein Büro für Geschichtsforschung und arbeitet als Gymnasiallehrer.
Mehr Information zum Lager in Büren: http://geschichte-luzern.ch/