Die Türkei ist ein demokratisches Land. Aber nur noch auf dem Papier. Immer mehr Türken flüchten vor Erdogan. In der Schweiz sind sie plötzlich die drittgrösste Gruppe, die um Asyl bittet. Betroffene erzählen.
S. Kilic, 41-jährig, Rechtsanwalt aus Ankara
Im Februar dieses Jahres verliess S. Kilic (Name geändert) die Hoffnung. 14 Jahre lang hatte er als Anwalt für jenen Staat gearbeitet, vor dem er nun floh. Die Türkei. Kilic, der einen Doktortitel und einen Abschluss in Privat- und Verfassungsrecht hält, nahm Kontakt zu syrischen Flüchtlingen in seiner Heimatstadt Ankara auf. Er fragte sie: «Wie kommt man ohne gültige Pässe ausser Land?» 9000 Euro bezahlte er, dass Schlepper seine Frau, die drei Kinder und ihn ausser Land brachten. Im Juli kamen sie in der Schweiz an – und stellten einen Asylantrag.
Kilic lebt in der Region Bern. Wir treffen ihn in einem Café. Gleich zu Beginn zückt er ein Blatt Papier und notiert chronologisch jene Daten, deren Ereignisse schliesslich zu seiner Flucht führten. Er sei Anwalt und brauche Struktur, sagt er. Dann beginnt er zu erzählen: Seit seiner Kindheit gehöre er der Gülen-Bewegung an. Ein Geheimnis habe er daraus nicht gemacht – das sei bis vor ein paar Jahren auch nicht nötig gewesen. Als ihn ein Bekannter warnte, die Regierung würde eine Liste mit Gülen-Sympathisanten erstellen, fand er das lächerlich: «Ich schlug die Warnung in den Wind und sagte zu ihm: Die Türkei ist ein demokratisches Land, ich bin ein Anwalt – was soll mir schon passieren?» Als ihn im April 2016 ein früherer Schulfreund kontaktierte, kam er doch ins Grübeln. Der Freund fragte nach Namen der Gülen-Bewegung. «Wenn ich diese liefern würde, versprach er mir ein gutes Leben und dass ich meinen Job behalten könnte.» Kilic weigerte sich, hob aber einen Teil seines Vermögens in Bargeld ab. Für den schlimmsten Fall.
Drei Monate später, im Juli 2016, traf dieser ein. Kilic sass vor dem Fernsehen, als Bilder von blockierten Brücken und Militärs über den Bildschirm flackerten. Sie zeigten den Putschversuch. Kurz darauf hörte er Erdogan sagen: Die Gülen-Bewegung stecke dahinter. «Da war mir klar: Das hat Folgen für mich und meine Familie», sagt Kilic. Sechs Tage später stürmte die Polizei sein Haus und durchwühlte seine Sachen. Die Kreditkarten und Bankkonten wurden gesperrt, die Pässe der Familie für ungültig erklärt. Sowohl Kilic wie seiner Frau wurde fristlos gekündigt. «Dafür reichte, dass wir zur Gülen-Bewegung gehörten. Denn diese wurde fortan als Terrorgruppierung eingestuft», sagt Kilic. Ausser den eigenen Eltern hätten sich Verwandte und Freunde von ihnen zurückgezogen. «Entweder weil sie Angst hatten, in etwas reingezogen zu werden – oder weil sie Erdogan glaubten», sagt der heute 41-Jährige.
Bis zu diesem Zeitpunkt verlief seine Karriere steil aufwärts. Doch nun hagelte es nur Absagen auf seine Bewerbungen. «Erfuhren die Arbeitgeber, dass mein Job nach dem Putschversuch gekündigt worden war, lehnten sie mich ab», sagt Kilic. Nach sechs Monaten kam er als Aushilfe in einem Advokaturbüro unter. Schwarz. Dennoch kehrte etwas wie Alltag im Leben der Familie ein. Doch im April 2017 klingelte die Polizei bei ihnen zu Hause Sturm – und nahm Kilic fest. Ihm wurde vorgeworfen, Mitglied einer Terrorgruppe zu sein. «Als Grundlage führten sie eine Advokaturvereinigung auf, aus der ich schon vor drei Jahren ausgetreten war; mein Konto, das ich bei einer Bank hatte, die einem Gülen-Sympathisanten gehörte; eine Nachrichten-App, die in der Gülen-Bewegung verbreitet ist – und meine Kündigung.» Bereits in U-Haft habe ihn der Staatsanwalt aufgesucht: Verrate Kilic Namen, könne er gehen. Das Angebot wiederholte kurz darauf der Gerichtspräsident. Ob es denn nicht jemanden gäbe, den Kilic nicht möge? Ein paar Namen, dann sei er frei. «Das kam für mich nicht infrage. Ich wusste nichts über diesen versuchten Putsch und hatte damit nichts zu tun. Weshalb sollte ich jemand anderen belasten?»
Zehn Monate lang verbrachte er im Gefängnis. In einer Zelle mit zehn Betten, zwei Toiletten – und 28 Menschen. «Wer reklamierte, wurde bedroht. Manchmal wurde der Person auch ein Sack über den Kopf gestülpt und auf sie eingeprügelt», sagt Kilic. Die Zelle teilte er mit Polizisten, Studenten, Lehrern und Ingenieuren. Mit Ausnahme von drei Mitinhaftierten gehörten alle der Gülen-Bewegung an.
Die erste Instanz des Gerichts verurteilte Kilic zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten. «Der Richter nahm mich noch zur Seite und sagte mir: Wir sind beide vom selben Fach. Wenn ich dich nicht ins Gefängnis bringe, komme ich selber rein. Er erwartete tatsächlich, dass ich ihn verstehen würde», sagt Kilic.
Er zog das Urteil weiter. Die nächsthöhere Instanz entliess ihn aus der Haft, stellte jedoch das Verfahren gegen ihn nicht ein. Auf freiem Fuss, nutzte Kilic seine Chance. Er floh in die Schweiz.
Mine und Münever, 62- und 55-jährig, Menschenrechtsaktivistinnen aus Istanbul
Als die 62-jährige Mine vor knapp einem Jahr in die Schweiz flüchtete, wusste sie, was sie erwarten würde. Bereits vor 30 Jahren fand sie hier Schutz. Damals floh die Menschenrechtsaktivistin vor der türkischen Militärdiktatur. Vor Gefängnis. Vor Folter. Zwölf Jahre lang lebte sie in Basel. Dann kehrte sie 2000 in die Türkei zurück. Sie fühlte sich in ihrer Heimat wieder sicher. So sicher, dass sie die Arbeit im Menschenrechtsverein IHD aufnahm. «Wir setzen uns für die Rechte aller Menschen ein, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung oder ihrem Hintergrund», sagt Mine. Ab 2015 verschärfte sich die Situation. Immer mehr Menschen suchten Hilfe beim Verein, erzählt Mine.
Mit einer Delegation fuhr sie im selben Jahr in die Osttürkei, um die Ausschreitungen in den kurdischen Gebieten zu dokumentieren. Bereits am Flughafen versuchten Beamte, sie aufzuhalten. «Sie drohten, uns zu verhaften, wenn wir nicht umkehrten», sagt Mine. Als sie in den Gebieten ankam, war ihr klar, weshalb die Geschehnisse nicht festgehalten werden sollten: «Wir sahen Menschen, die eingesperrt in einem Keller verbrannt waren. Kinder, die getötet wurden.»
Zurück in Istanbul erfuhr Mine, dass gegen alle Aktivisten, die in der Osttürkei die Geschehnisse dokumentierten, Untersuchungen aufgenommen worden seien. «Kurz darauf war die Situation für uns unerträglich: Ein Vorstandsmitglied nach dem anderen wurde verhaftet oder musste den Pass abgeben. Auch unsere Veranstaltungen wurden verboten», sagt Mine. Bei ihr kamen die Erinnerungen an das Erlebte in den 80er-Jahren hoch – und liessen sie die Koffer packen.
Ein paar Monate vor Mine kam Münever in der Schweiz an. Hier sollte sie einen Vortrag über die Situation in der Türkei halten. Und erfuhr: Nach ihrer Abreise durchsuchte die Polizei ihr Haus in Istanbul, ein Strafverfahren sei gegen sie eingeleitet worden. Statt ein paar Tage in der Schweiz zu verbringen, blieb Münever – und stellte einen Asylantrag.
Mine und Münever kennen sich seit Jahren. Beide sind Teil der sogenannten Samstagsmütter. Diese treffen sich seit 1995 jeden Samstag in Istanbul und machen auf das Schicksal ihrer verschleppten oder verschwundenen Söhne oder Ehemänner aufmerksam. Münever, die seit ihrer Studentenzeit in der Frauenrechtsbewegung aktiv war, unterstützte die «Samstagsmütter» von Beginn an.
2011 empfing Präsident Erdogan noch eine Delegation von ihnen. Heute macht sich Münever grosse Sorgen um die Bewegung. Ende August hatte die Polizei ihre Mahnwache aufgelöst – und mit Tränengas auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer geschossen. «Dass selbst diese friedliche Bewegung mit solch einer Härte angegangen wird, zeigt doch, wo die Türkei heute steht», sagt Münever.
Emel, 19-jährig, Gymnasiastin aus Adana
Emel (Name geändert) war 17 Jahre alt, als hinter ihr die Gefängnistür ins Schloss fiel. Fünf Monate sei sie in Untersuchungshaft gewesen, erzählt sie. Damals besuchte Emel noch das Gymnasium in Adana, einer Grossstadt im Süden der Türkei. Heute ist die junge Frau 19 Jahre alt und lebt in einem Asylzentrum in der Region Basel. Ihr Blick flackert nervös, ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Zu sehr sorgt sie sich um ihre Eltern. Seitdem Emel ins Ausland geflüchtet ist, hat die Polizei fünf Mal ihr Elternhaus durchsucht. Ginge es nach den Richtern in ihrer Heimat, müsste die junge Frau ins Gefängnis: für fünf Jahre und sechs Monate.
Als Mitglied einer linken Studentenorganisation ging Emel auf die Strasse und kritisierte die Regierung öffentlich. «Wir setzten uns für Grund- und Frauenrechte ein», sagt sie. Das kam nicht gut an. Emel wurde angeklagt – unter anderem wegen Beleidigung des Staatspräsidenten oder wegen Teilnahme an nicht bewilligten Kundgebungen. Das Gerichtsverfahren erlebte sie als willkürlich: «Ich wurde verurteilt, Mitglied einer nordtürkischen Kurdenorganisation gewesen zu sein. Diese hatte sich aber 1988 aufgelöst – da war ich noch gar nicht geboren.»
Als sie dieses Urteil bekam, entschied sie, ihr Land zu verlassen. Aus der U-Haft kam sie einige Monate zuvor frei, doch die Bilder des überfüllten Gefängnisses liessen sie nicht mehr los. «Es waren doppelt so viele Menschen in den Zellen als vorgesehen. Nur die Hälfte der Inhaftierten konnte in Betten schlafen, die anderen mussten sich auf den Boden legen», sagt sie.
Bevor die Polizei Emel erneut festnehmen konnte, heuerte sie Schlepper an. Ihre Familie habe ihren Entschluss unterstützt. Dennoch sei es für alle ein Schock gewesen, dass es für die 19-Jährige die einzige Möglichkeit war, in Freiheit zu leben. «Wer in der Türkei politisch aktiv ist, muss damit rechnen, ins Gefängnis zu kommen. Aber dass bereits meine Art des Protests dafür ausreicht, hätte ich nie gedacht.»