Sexuelle Belästigung
Nach einer weltweiten Welle der Entrüstung: Was von #MeToo bleibt

Die #MeToo-Bewegung hat in den sozialen Medien an Präsenz verloren. Auch bei Fachstellen werden wieder weniger sexuelle Übergriffe gemeldet.

Andrea Tedeschi
Drucken
Meldungen zu Übergriffen – wie in dieser nachgestellten Szene – nehmen ein halbes Jahr nach #MeToo wieder ab.

Meldungen zu Übergriffen – wie in dieser nachgestellten Szene – nehmen ein halbes Jahr nach #MeToo wieder ab.

Hanspeter Bärtschi

Ein halbes Jahr nach Beginn der #MeToo-Bewegung sind die Meldungen zu sexuellen Übergriffen bei den Schweizer Fachstellen bereits wieder zurückgegangen. «Sie sind im ersten Quartal 2018 wieder im normalen Bereich des Vorjahres», sagt Helena Trachsel, Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung von Frau und Mann des Kantons Zürich. Noch im letzten Jahr hatte sie einen Rekord verzeichnet. «Noch nie hatten uns innert kurzer Zeit so viele Männer und Frauen sexuelle Übergriffe gemeldet», sagt Trachsel. Die Meldungen sind darum relevant, weil Betroffene nur selten Strafanzeige erstatten. Besonders Männer unter 30 Jahren suchten mehr Hilfe.

Trachsel führt die Zunahmen auf den Skandal um den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein zurück, der seine Machtposition ausgenützt und über Jahre mehrere Frauen vergewaltigt und sexuell belästigt haben soll. Letzte Woche war er von einer Grand Jury in New York angeklagt worden. Am Dienstag muss Weinstein erneut zu einer Gerichtsanhörung erscheinen. Der Skandal löste weltweit eine beispiellose Entrüstung aus. Über #MeToo auf Twitter meldeten sich Frauen und auch Männer zu Wort, die Übergriffe erlebt hatten.

Verunsicherte Männer

Was heisst das für die Wirkung der Bewegung in der Schweiz, die über Monate andauerte und jetzt vorüber scheint? «Ich denke nicht, dass die Dunkelziffer kleiner geworden ist, aber die Sensibilisierung für das Thema hat abgenommen», sagt sie.

Eine ähnliche Erfahrung macht das Zürcher Mannebüro, eine Fach- und Informationsstelle für Männer. «Die #MeToo-Bewegung führte bei uns im letzten November und Dezember zu einer Zunahme der Beratungen von verunsicherten Männern», sagt der Sexualtherapeut Martin Bachmann. Sie hätten Rat gesucht, weil sie nicht mehr wussten, wie weit sie zum Beispiel bei einem Kompliment bei Frauen gehen dürften und wo die Grenzen bei einem Flirt liegen. Inzwischen kämen solche Fragen nicht mehr auf. Doch für Männer mit veralteten Geschlechterbildern sei der Umgang mit Frauen komplexer geworden, «weil die Frau im Gegensatz zu früher das Leben freier gestalten darf.» Anders gesagt: Heute darf eine Frau ohne Erlaubnis des Ehemannes ein Bankkonto eröffnen, eine Wohnung mieten oder einen Arbeitsvertrag unterschreiben.

«Die Bewegung war ein wichtiger Weckruf», sagt Trachsel, die Fachstellen-Leiterin. #MeToo habe aufgezeigt, dass die Betroffenen selbst etwas bewirken können. Das Thema habe aber noch lange nicht alle erreicht. «Ich bin sicher, dass das Thema jederzeit wieder aufpoppen kann», sagt sie. Auch Christa Binswanger, Leiterin Fachbereich Gender und Diversity an der Universität St. Gallen, sieht #MeToo als eine von mehreren Wellen. In den 1970er-Jahren gab es die bislang wichtigste feministische Bewegung, die für eine selbstbestimmte Sexualität der Frau mit dem Slogan kämpfte: «Der Körper gehört mir!» Es folgten weitere Wellen wie in den 1980er- und 1990er-Jahren. Die Bewegungen haben Normen neu definiert, mit denen die heutigen Jugendlichen zuerst umgehen lernen müssen. «Sie sind mit vielen medialen Bildern konfrontiert. Diese suggerieren, dass der Körper immer sexuell aktiv sein will und kann», sagt Binswanger. Darum sei es wichtig, in die sexuelle Erziehung zu investieren und die Jugendlichen auf ihrem Weg zu unterstützen, sagt Binswanger.

«Schweizer Politik braucht Zeit»

Was für Lösungen gibt es für beide Geschlechter gegen Übergriffe? Binswanger sagt: «Der Geschlechterkampf bringt nichts. Das Beste wäre, auf den Dialog zu setzen.» Am deutlichsten macht Schweden die Spielregeln klar. Seit diesem Juni gilt: Bei ungewolltem Sex liegt die Beweislast des Neins nicht mehr aufseiten der Opfer, sondern der mutmassliche Täter muss das Ja beweisen können. Im Schweizer Bundesparlament ist ein Gesetz wie in Schweden noch kein Thema. Binswanger sagt: «Neue Wellen werden kommen, die Schweizer Politik braucht Zeit.»