Analyse
Flächendeckende und einschneidende Massnahmen sind unumgänglich

Wird das Infektionstreiben in der Schweiz nicht bald eingeschränkt, sind in 10 Tagen keine Intensivbetten mehr frei. Der Bundesrat kommt deshalb am Mittwoch nicht darum herum, schärfere Massnahmen zu ergreifen. Eine Analyse

Anna Wanner
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Martin Ackermann, der Präsident der nationalen COVID-19 Science Task Force, plädiert für gezieltes, entschiedenes und flächendeckendes Eingreifen.

Martin Ackermann, der Präsident der nationalen COVID-19 Science Task Force, plädiert für gezieltes, entschiedenes und flächendeckendes Eingreifen.

Peter Klaunzer / KEYSTONE

Alle Augen richten sich derzeit auf den Bundesrat, der an seiner Mittwoch-Sitzung über weiterführende Massnahmen entscheidet: Dabei geht es nicht mehr um die Frage, ob solche überhaupt nötig sind, sondern wie einschneidend diese ausfallen.

Die Infektionszahlen sind nach wie vor hoch. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) meldete gestern fast 6000 neue Fälle, 167 Personen mussten ins Spital, 16 Menschen starben. Virginie Masserey, Leiterin Infektionskontrolle beim BAG sagt, die Zahlen seien besorgniserregend, sie seien vergleichbar mit jenen im März. Damals hatte der Bundesrat den Lockdown beschlossen, hatte Schulen, Geschäfte und Restaurants geschlossen. Zum Vergleich: Der Bundesrat verbot vor zehn Tagen Treffen von mehr als 15 Personen, weitete die Maskenpflicht aus und empfahl Homeoffice. Die Wirksamkeit dieser Massnahmen könne noch nicht gemessen werden, sagt Masserey. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass der Bundesrat weiter zuwartet.

Dafür gibt es drei wesentliche Gründe: Erstens steht das Gesundheitswesen kurz vor der Überlastungsgrenze. Zweitens gehen Wirtschaftsexperten davon aus, dass harte und flächendeckende Massnahmen weniger schädlich sind für die hiesigen Unternehmen als eine weitere unkontrollierte Ausbreitung der Epidemie. Und drittens hat sich die Containment-Strategie «erschöpft», wie Martin Ackermann, Präsident der COVID-19 Task Force erklärte.

Was bedeuten diese Entwicklungen im Detail?

Funktionieren des Gesundheitswesens sicherstellen

Oberfeldarzt Andreas Stettbacher, der den Sanitätsdienst des Bundes koordiniert, kündigt «keine guten Nachrichten» an. Entwickeln sich die Infektionszahlen und Hospitalisierungen ungebremst weiter, werden die Intensivbetten bereits in zehn Tagen knapp. Laut Task Force ist es möglich, dass einzelne Spitälern schon früher an eine Kapazitätsgrenze stossen. Die Ärzte müssten dann eine Triage vornehmen und entscheiden, wem ein Intensivplatz zusteht und wer warten muss.

Zur Erinnerung: Bereits bei der ersten Welle ging es beim Lockdown hauptsächlich darum, den Patienten mit schwerem Verlauf eine hochwertige medizinische Versorgung zu ermöglichen. Deshalb werden laut Stettbacher die Intensivbetten um 200 Plätze auf rund 1400 Betten ausgebaut. Doch löst dies das Problem nicht. «Mit 200 Betten gewinnen wir ungefähr 32 Stunden», sagt Martin Ackermann, Präsident der Task Force. «Es gibt keine Alternative: Wir müssen die Entwicklung stoppen. Einschneidende Massnahmen sind nötig.»

Wirtschaft meistert Krise relativ gut

Die Wirtschaftsexperten der Task Force lehnen es ab, Massnahmen zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gegen jene der Wirtschaft aufzuwiegen. Die unkontrollierte Ausbreitung der Epidemie, sei nicht im Interesse hiesiger Unternehmer. «Die Unsicherheit ist Gift. Die Wirtschaft braucht Stabilität», sagt Jan-Egbert Sturm, Wirtschaftsexperte der COVID-19 Task Force. Er erinnert an das Beispiel Schweden, wo die wirtschaftliche Tätigkeit stark zurückging, obwohl die Regierung auf scharfe Massnahmen verzichtete.

Kommt hinzu, dass die hiesigen Unternehmen sowie ein Grossteil der Erwerbstätigen die Krise einigermassen gut meistern. «Die Furcht vor einer Konkurswelle oder die Warnung vor Massenentlassungen sind unbegründet», sagt Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). Die Massnahmen des Bundesrats, namentlich Kurzarbeit und Erwerbsersatz, haben laut Zürcher eine hohe Wirksamkeit. «Der Bund hat seit Beginn der Krise rund acht Milliarden Franken ausgegeben, bis Ende Jahr werden es rund zwölf Milliarden sein.» In der Folge seien die Arbeitnehmereinkommen kaum eingebrochen. Wobei sich die Lage je nach Branche stark unterscheidet.

Strategie der Eindämmung führt nicht weiter

Schärfere und neue Massnahmen stehen auch an, weil gemäss Martin Ackermann sich die «Containment-Strategie» des Bundes erschöpft hat. Das heisst, die Epidemie lässt sich nicht durch Isolierung, Quarantäne und Contact Tracing eindämmen. Jetzt werden auch «Mitigations-Massnahmen» nötig, welche die Auswirkungen der Pandemie mildern, etwa um verletzliche Gruppen zu schützen.

Dass die bundesrätlichen Massnahmen nicht ausreichen, lasse sich an den Mobilitätszahlen ablesen, sagt Ackermann: Während die Bevölkerung im März ihre Mobilität massiv eingeschränkt habe und so die Zahl der Kontakte und somit neuer Infektionen reduzieren konnte, ist das heute nicht der Fall: «Die Bevölkerung verhält sich anders, sie ist vergleichsweise immer noch sehr mobil.» Ackermann empfiehlt, wenn immer möglich Zuhause zu bleiben. Denn rund die Hälfte aller Infektionen müssten verhindert werden, um das Ruder herumzureissen. Ackermann: «Das können wir nur erreichen, wenn wir unsere Kontakte drastisch reduzieren.»

Kurz: Die Menschen verhalten sich anders als noch im März. Zur Eindämmung der Epidemie reichen die freiwilligen Einschränkungen nicht. Einschneidende Massnahmen sind unumgänglich.