Die Wohnung der Jenischen hat auf vier Rädern Platz. Den Tag verbringen sie mit Messerschleifen, Hausieren und Haushalt schmeissen. Auf grossem Fuss lebt niemand. Einige leben in ständiger Angst vor Hasstiraden.
Es geschah in Windisch AG, wo Marina Birchler mit ihrem Mann einen der offiziellen Stellplätze für Fahrende bezogen hatte: Sie waren dieses Wochenende in ihrem Campingmobil aus Bern angekommen, wo Polizisten sie vom Parkplatz beim BEA-Gelände weggebracht hatten, als sie mitten in der Nacht von Hasstiraden geweckt wurden. Ob wütende Anwohner oder Zigeunerhasser – Birchlers wurden aus dem Schlaf gerissen und erstarrten vor Angst. «Ich konnte gar nicht reagieren», sagt Marina Birchler auf dem Durchgangsplatz Kaiseraugst.
Birchlers schlossen sich im Campingmobil ein und harrten aus. Es blieb bei den verbalen Attacken der Unbekannten, doch Marina Birchler ist traumatisiert. Und das hat mit einem Angriff vor bald 20 Jahren zu tun, der sich bei Genf zutrug: Sie seufzt, ehe sie erzählt: «Unbekannte hatten damals auf unseren Wohnwagen geschossen.»
Die Salve durchdrang die Fenster und zerstörte den Fernseher. Sie, die drei kleinen Kinder und ihr Mann blieben unverletzt. Der Schock aber sass tief. Genfer Polizisten nahmen Ermittlungen auf. Ohne Erfolg, der Schütze wurde nie gefunden. Seither reist die Angst im Wohnwagen von Marina und Noël Birchler mit.
Es ist ein ruhiger Vormittag, die Männer sind auf ihrer Arbeit, die Frauen machen den Haushalt. Aus einem der Wohnwagen dröhnt das Geräusch einer Waschmaschine, die auswindet. Marina Birchler bereitet in ihrem Wohnmobil «Laschisch» zu, Kaffee in der jenischen Sprache. Das Handy klingelt, Marina nimmt den Anruf entgegen und entschuldigt sich kurz. Sie rufe später zurück. «Joggenä seget herrlems.» Joggenä? «Journalisten seien hier, sagte ich», erklärt sie lächelnd.
Birchlers Wohnung hat auf vier Rädern Platz. Alles ist ordentlich verstaut. Eine Schale mit frischen Früchten steht auf dem Tisch. Neunfache Grossmutter ist sie. Die drei Kinder von Birchlers sind längst ausgeflogen, haben ihre eigenen Familien gegründet und pflegen den Lebensstil der Fahrenden weiter. Doch was heisst das überhaupt, ein Leben als Fahrende?
Nachdenklich antwortet Marina: «Wenn der Frühling erwacht, wenn die Vögel wieder zwitschern, dann hält uns nichts mehr zurück. Das liegt in unserem Blut.» Birchlers mieten wie viele der Schweizer Fahrenden eine bescheidene Wohnung, in der sie überwintern. Als die Kinder schulpflichtig waren, taten sie dies in Erlach am Bielersee. Die Kinder besuchten während der Wintermonate die Schule im nahen Le Landeron.
Zwei Buben spielen auf dem Kiesplatz Fussball. Der grössere wird zu einem der Wohnwagen gepfiffen und angewiesen, seine Hausaufgaben zu erledigen. «Die Kinder sind unsere Könige», erklärt Marina Birchler. Deshalb seien viele Jenische ja auch so schockiert nach der Polizeiaktion von letzter Woche in Bern, die nicht einmal Halt vor den Kleinsten gemacht hatte. «Als sie uns Ziffern auf die Handrücken malten, kriegten wir es mit der Angst zu tun: Wollten sie uns etwa wie früher die Kinder wegnehmen?»
In der Zwischenzeit ist der Nachmittag angebrochen. Immer mehr Männer kommen vom Hausieren oder Messerschleifen zurück, Jakob Feubli ist ganz zufrieden, wie es auf seiner Tour gelaufen ist. Stolz führt er uns seine Gerätschaften vor. Die Funken sprühen, als er einem Küchenmesser neue Schärfe verleiht. Wie viel benötigen Fahrende denn für ihren Lebensunterhalt? «Mal ist es mehr, mal weniger», lautet seine Antwort. Den meisten geht es gleich: Mit ihrem Niedriglohngewerbe nehmen sie nicht viel Geld ein, versteuern aber dementsprechend auch nicht grosse Summen.
Doch das Leben ist teuer. Wer nicht liquid ist und den Stellplatz nicht bezahlen kann, der hat ein Problem. Im Aarauer Schachen etwa – einem der Vorzeige-Durchgangsplätze – müssen Fahrende pro Fahrzeug 600 Franken Vorauszahlung leisten. Auch wenn sie abzüglich der Übernachtungskosten das Geld beim Weiterziehen zurückbekommen, meidet Jakob Feubli mit seiner Frau den Platz: «600 Franken – die musst du als Fahrender erst einmal geradeso auf dir tragen.»