Historisch
Verbotene Schriften aus dem Thurgau: Geistige Munition für die Revolution aus Kreuzlingen

Hart an der Grenze zu Konstanz liegt mit der Villa «Belle-Vue» jener Ort, an dem die deutsche 1848er-Revolution publizistisch vorbereitet wurde. Der Verfasser wollte damit für «soziale Freiheit» und «geistige Aufklärung» eintreten.

Rolf App
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Politische Schriften.

Politische Schriften.

Bild: PD/Rosengarten Museum

Man hat nicht weit. Passiert man, von Konstanz her kommend, den Kreuzlinger Hauptzoll, so stösst man auf der Hauptstrasse rechter Hand bei der Nummer 14 auf eine schöne Villa mit der Inschrift «Belle-Vue». In einem kleinen Park gleich dahinter findet sich eine Kunst-Installation, über deren Bedeutung eine Tafel aufklärt: eine weisse Couch, auf die in der Nacht das Muster jenes Orientteppichs projiziert werde, mit dem Sigmund Freud seine Couch bedeckt hatte.

Der Schöpfer der Psychoanalyse weilte 1912 hier, denn mit Ludwig Binswanger, der das «Belle-Vue» von 1857 an zu einer weitherum bekannten psychiatrischen Heilanstalt gemacht hatte, verband ihn eine lebenslange Freundschaft.

Ignaz Vanotti und der «Irrthum seines Herzens»

Dies ist freilich schon das zweite Leben des ehrwürdigen Hauses. Das erste ist noch abenteuerlicher und auch politisch weit brisanter, wie die gerade in Konstanz eröffnete Ausstellung zur Revolution von 1848 in Baden zeigt. Sie erzählt unter anderem die Geschichte des Konstanzer Anwalts Ignaz Vanotti.

Der wohlhabende Mann gehört nicht nur zu den Begründern der Konstanzer Dampfschifffahrtsgesellschaft; er hat sich auch frühzeitig in die politischen Debatten der Zeit eingemischt: Ein «idealgesinnter, selbstloser Charakter, der sein beträchtliches Vermögen politischen Zwecken, die bei ihm in den lautersten Motiven wurzelten, opferte, und der den Irrthum seines Herzens schwer büsste», wie es in der Chronik des «Bürgermuseums» heisst – jener Vereinigung, in deren Mitte die neuen, gegen die absoluten Monarchien der Zeit gerichteten Ideen debattiert werden.

Dem Blatt ein radikales Profil verliehen

Ignaz Vanotti nun ruft 1838 in Konstanz den «Leuchtthurm» ins Leben, ein «politisches Tagblatt für Deutschland und die Schweiz», das für «soziale Freiheit» und «geistige Aufklärung» eintreten will, dessen finanzielle Mittel aber vom Redaktionsleiter Heinrich Elsner in kurzer Zeit verprasst werden. Ein Neustart muss her, Vanotti denkt nicht daran aufzugeben: 1839 erscheint unter der Leitung von Johann Georg August Wirth die «Deutsche Volkshalle», deren wichtigster Mitarbeiter, der in die Schweiz emigrierte Dichter Georg Herwegh, dem Blatt ein radikales Profil verleiht.

Ignaz Vanotti.

Ignaz Vanotti.

Bild: PD/Rosengarten Museum

Die Behörden des Grossherzogtums Baden reagieren rasch und verbieten das Blatt, das 1841 sein Erscheinen einstellt mit den trotzigen Worten: «Mögen noch hundert solche Unternehmungen fallen, so wollen wir hundert neue gründen.»

Die Konstanzer, «unzufriedene Schreier»

Von der Zensur in einen täglichen Kleinkrieg gezwungen, wechselt Vanotti 1840 auf Schweizer Terrain, zunächst ins Schloss Remisberg am Hang des Seerückens, dann in die Villa «Belle-Vue». Politisch ist die Lage günstig, nicht nur, weil Konstanz ein Umschlagplatz neuer Ideen und neben Mannheim die zweite oppositionelle Pressestadt in Baden ist. Sondern auch, weil die Grenze so schwer zu kontrollieren ist. 1844 berichtet ein preussischer Geheimagent nach Hause, der Schmuggel verbotenen Schrifttums geschehe «im Einzelnen und im Kleinen, was aber bald Vieles» mache. Kontrolliert werde selten, denn andernfalls würden die Zöllner die Konstanzer, «ohnehin unzufriedene Schreier», noch wütender machen.

Fast alle politischen Schriften, die im Verlag Belle-Vue bis 1846 erscheinen, werden in Deutschland verboten, finden aber über raffinierte Schmuggelwege doch ihren Weg zu den interessierten Kreisen. Sie polemisieren gegen Unterdrückung, Willkür und Zensur, fordern Pressefreiheit, soziale Reformen und demokratische Verfassungen. Unter den «Zensurflüchtlingen» spricht sich die Adresse rasch herum, mit Ferdinand Freiligrath, Karl Heinzen und Georg Herwegh gehört die Prominenz der Exilliteratur zu Vanottis Mitarbeitern. Sie glauben an das, was Heinzen in seiner Flugschrift «Weniger als zwanzig Bogen» dem deutschen Volk zuruft: «Eure verjagten Schriftsteller sind es zunächst, welche die Leuchtkugeln auf den finstern Weg zu einer lichten Zukunft werfen müssen.»

Immer in den roten Zahlen

An dieser «lichten Zukunft» arbeitet Ignaz Vanotti mit unerhörtem Einsatz. Er verachtet Hindernisse, Freunde tadeln ihn wegen der ungemeinen Heftigkeit seines Charakters. Doch die ökonomische Realität besiegt schon bald seinen politischen Schaffensdrang. Wie auch die andern Emigrantenverlage schreibt «Belle-Vue» permanent rote Zahlen, 1846 muss Vanotti die beinahe bankrotte Firma verkaufen. Als die Revolution losbricht, nimmt er am Freischarenzug Friedrich Heckers teil und flieht nach dessen Scheitern in die Schweiz. In Abwesenheit wegen Hochverrats zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt, lebt er bis 1860 in Luzern, kommt dann in den Genuss einer Amnestie und stirbt 1870 in Konstanz.

«Jetzt machen wir Republik!» Kulturzentrum am Konstanzer Münster, bis 7. Januar 2024