Gesundheit
Virtuelle Psychotherapie: Wie die Coronakrise der einst umstrittenen Behandlungsmethode Aufwind verschafft

Die Online-Therapie ist an sich nichts Neues. Bei Soldaten in Einsatzgebieten oder Hilfswerkmitarbeitern findet sie seit geraumer Zeit Anwendung. In Fachkreisen stritt man sich bis anhin über die Bedenklichkeit dieser Methode. Hat die Alternativlosigkeit während des Lockdowns nun die Kritiker verstummen lassen? Ostschweizer Experten ziehen ein erstes Fazit.

Miguel Lo Bartolo
Drucken
Psychiater und Psychologen therapieren ihre Patienten von Angesicht zu Angesicht. Das gewohnte Bild befindet sich mit der vermehrt aufkommenden Telemedizin im Wandel.

Psychiater und Psychologen therapieren ihre Patienten von Angesicht zu Angesicht. Das gewohnte Bild befindet sich mit der vermehrt aufkommenden Telemedizin im Wandel.

Symbolbild: Keystone

Das gesellschaftliche Zusammenleben ist seit Beginn der Pandemie einem Umbruch sondergleichen ausgesetzt. Geschlossene Gastwirtschaften, leere Stadien und fehlende Glühweinstände in der Altstadtgasse – in Zeiten, in denen einem alles scheinbar Wichtige genommen wird, kann man schnell den Blick für das wirklich Wichtige verlieren: die Gesundheit – körperliche und geistige gleichermassen. Denn diese greift das Virus zuallererst an.

Dass die Coronakrise auch psychische Erkrankungen hervorrufen würde, haben Fachkundige antizipiert. Der Mensch vereinsamt. Er wird depressiv, verfällt den Suchtmitteln und seine Gewaltbereitschaft nimmt zu. Dies das Bild, das von Experten gezeichnet wurde. Doch was, wenn man schon depressiv, gewaltbereit oder süchtig war? Und wenn man deshalb sogar schon therapiert wurde? Diese Fragen blieben weitestgehend unbeantwortet. Und das, obwohl sich für einige bereits psychisch Erkrankte das Setting der therapeutischen Behandlung total verändert hat.

Sorgen um den Datenschutz

Therapeut und Patient treffen sich seit dem Lockdown teils nicht mehr im Sitzungszimmer, sondern halten ihren Kontakt per Telefon oder Webcam aufrecht. Zusammengefasst wird diese Behandlungsmethode unter dem Begriff der Telemedizin oder Online-Therapie. Doch wie bei allem technischen Fortschritt schwingt auch bei der Online-Therapie eine gewisse Skepsis mit. So ist sie zwar als Komplement zur klassischen Face-to-Face-Therapie in weiten Kreisen akzeptiert. Deren Kritiker bemängeln indes, dass auf die Gefahren, die diese Therapiemethode mit sich bringt, ungenügend eingegangen wird. Ein Schlagwort heisst: Datenschutz.

Doch wie bedenklich ist diese Therapieform betreffend Cybersicherheit tatsächlich? Bei welchen Störungsbildern bietet sich die Online-Therapie überhaupt an? Und wie hat sich durch die physische Distanz das Verhältnis zwischen Patient und Therapeut verändert?

Zwei Ostschweizer Experten teilen ihre Erkenntnisse aus den vergangenen Monaten und ziehen ein erstes Fazit.

Erfahrungsbericht aus der Psychiatrie St.Gallen Nord

Thomas Maier, Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie an der Psychiatrie St.Gallen Nord.

Thomas Maier, Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie an der Psychiatrie St.Gallen Nord.

Bild: PD

«Die meisten Patienten bevorzugen immer noch das direkte persönliche Gespräch, um sich psychotherapeutisch helfen zu lassen», sagt Thomas Maier, Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie an der Psychiatrie St.Gallen Nord (PSGN). Das liege vor allem daran, dass sich im direkten Gespräch die grösste emotionale Dichte und Intensität erreichen lasse. Es würden alle Sinne direkt angesprochen und sowohl die verbalen als auch die nonverbalen Elemente der Kommunikation unverstellt übermittelt.

In bestimmten Situationen haben alternative Kommunikationskanäle aber «schon immer eine ergänzende Rolle gespielt». Im Krankheitsfall und bei verhinderter direkter Begegnung etwa, bei Abwesenheit infolge Reisen und anderer Ortswechsel, oder wenn die Therapiesitzung zu ungewöhnlichen Tageszeiten stattfindet. Dass eine Therapie aber von vornherein als reine Online-Therapie geplant wurde, sei bisher eher selten gewesen. Was nicht heissen soll, dass die Methodik fruchtlos sein muss. Der Chefarzt betont:

«Es kann hervorragend funktionieren, wenn sich beide Beteiligten auf dieses Setting einstellen.»

Als Fallbeispiele für Konstellationen, in denen schon gute Erfahrungen gemacht wurden, listet Maier entfernt lebende Menschen auf: «Das können Hilfswerkmitarbeiter oder Journalisten in fernen Ländern sein, technisches Personal in abgelegenen Forschungsstationen oder auf Bohrinseln, Soldaten in Einsatzgebieten und so weiter.» Maier verweist ausserdem auf eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten zur Effizienz und Wirksamkeit solcher Therapieformen - und zwar bei unterschiedlichen Störungsbildern.

Diese Effizienz lasse sich unter anderem dadurch begründen, dass die Psychotherapie - unabhängig vom Setting - als eine der wirksamsten Therapieformen gilt, die es in der Medizin gibt. Maier sagt:

«Die Psychotherapie ist so wirksam und effizient, dass selbst bei ‹eingeschränkter Signalkapazität› eine erfolgreiche Therapie zustande kommt.»

Aus persönlicher Erfahrung weiss der Chefarzt, dass die Patienten trotz Distanz- und Hygienevorschriften froh sind, die Möglichkeit eines therapeutischen Gesprächs nutzen zu können. Der vertrauensvolle Austausch wird auch über Online-Kanäle geschätzt, so Maier.

Bei gewissen Störungsbildern ist eine reine Online-Therapie nicht ratsam

Die Online-Therapie hat ihre Grenzen. Das räumt Maier ein: «Sie ist nicht immer nah genug am Patienten.» Die rote Linie zieht er dort, wo es um die Einschätzung von heiklen Dingen wie Selbst- und Fremdgefährdung, das Erkennen einer Intoxikation oder das Behandeln von psychotischen Zuständen geht. Auch glaubt er, dass bei Therapien, die auf tiefgreifende Entwicklungen und Veränderungen der Persönlichkeit abzielen, mit einer Face-to-Face-Behandlung deutlich bessere Resultate erzielt werden können. Maier konkretisiert:

«Das ist beispielsweise bei Persönlichkeitsstörungen oder schweren Traumafolgestörungen der Fall, aber auch bei Suchterkrankungen oder Essstörungen.»

Bei solchen Störungsbildern könne durch direkte Präsenz eine viel grössere Wirkung erzielt werden. Reine Online-Therapien könnten zu wenig effektiv sein oder unter Umständen viel länger dauern. Gerade bei Kindern und Jugendlichen könne die verdünnte physische Präsenz des Therapeuten zu einer mangelnden Effizienz führen. Er argumentiert mit der hohen Disziplin und Eigenverantwortung, die mit einer Online-Therapie einhergehen. Denn man müsse trotz abgeschwächter sensorischer Feedbackschleifen den Fokus halten können.

Patienten mit schwerer ausgeprägten Krankheitsbildern sollten ausserdem zumindest ab und zu persönlich gesehen werden. So auch jene, die sich bei Online-Kontakten nicht wohlfühlen, sich nicht öffnen können oder die technischen Möglichkeiten der Online-Therapie nicht ausreichend beherrschen.

Maier weiss, dass bei vielen Diensten, die auch im alltäglichen Gebrauch verwendet werden - etwa Zoom und Skype -, der Datenschutz nicht ausreichend gewährleistet ist. Er empfiehlt, diese nicht für Therapien zu verwenden. In der Psychiatrie St. Gallen Nord verwendet man ein kommerzielles Produkt, das von der IT-Abteilung als «ausreichend sicher» erachtet wird.

Erfahrungsbericht aus der Stiftung Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste (KJPD) St.Gallen

Maria Teresa Diez Grieser, Forschungsverantwortliche und Leitende Psychologin der Stiftung KJPD St.Gallen.

Maria Teresa Diez Grieser, Forschungsverantwortliche und Leitende Psychologin der Stiftung KJPD St.Gallen.

Bild: PD

«Nicht wenige Jugendliche waren – zumindest zeitweise – ganz froh, dass sie nicht in die Institutionen kommen mussten, sondern von ihrem Zimmer aus mit der Therapeutin sprechen konnten», sagt Maria Teresa Diez Grieser, Leitende Psychologin und Forschungsverantwortliche der Stiftung Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste (KJPD) St.Gallen. Die Bandbreite der Reaktionen sei gross und abhängig von Faktoren wie Alter, Art der Störung oder dem familiären Umfeld.

Für einige Jugendliche ist die herkömmliche Face-to-Face-Situation unangenehm, sagt Diez. Dieses neue Setting habe es ihnen teilweise ermöglicht, mehr und offener über sich zu erzählen. Für andere war die Videokonsultation wiederum zu bedrängend und die Therapeutin optisch zu nah. In der Folge wurde des Öfteren ein Telefonat vorgezogen. Deren Eltern waren froh, auch ausserhalb der Therapiestunde Fragen stellen zu können. «So konnten auch Eskalationen, die aufgrund der besonderen Lage da und dort vermehrt auftraten, rechtzeitig besprochen und abgepuffert werden», so Diez.

Ein kleiner Bub kappte die Verbindung aus Irritation

Auch bei kleinen Kindern lässt sich kein eindeutiges Fazit ziehen. Einzelne spielten und berichteten per Video in ähnlicher Form wie im Therapiezimmer von ihren Bedürfnissen, Gefühlen und Gedanken. Bei anderen sei indes eine Therapie in dieser Form schlicht nicht möglich gewesen, da die Eltern sowohl aus technischen Gründen als auch aufgrund der Situation sehr präsent waren. Dadurch entstand eher ein Eltern-Kind-Setting, mit dem nicht alle zurechtkamen.

Diez erinnert sich an konkrete Fälle:

«Ein kleiner Bub schaltete das Gerät einfach ab, ein anderer war irritiert, weil die Therapeutin nicht das Gleiche wie er riechen konnte.»
Kleiner Bub bedient ein iPad an seinem Schreibtisch.

Kleiner Bub bedient ein iPad an seinem Schreibtisch.

Symbolbild: KEY

Die notwendige Aufmerksamkeitsspanne und Konzentration beim Videokontakt habe für viele Kinder eine grosse Herausforderung dargestellt, weshalb die Dauer angepasst werden musste. Gesamthaft können die KJPD ihrerseits indes festhalten, dass die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern durch das Aufrechterhalten der Beziehung und die emotionale und fachliche Präsenz der Therapeuten und Therapeutinnen durch die verschiedenen Kommunikationskanäle (Telefonate, E-Mail, Whatsapp, Videotelefonie) gestärkt werden konnten.

Physische Distanz erschwert die diagnostische Arbeit

Probleme mit dem digitalen Setting gingen nicht nur von den Patienten aus. Auch einige Therapeutinnen und Therapeuten hatten ihre Schwierigkeiten damit. Diez erklärt sich das einerseits mit der limitierten technologischen Expertise einiger Kolleginnen und Kollegen. Andererseits sei durch die physische Distanz auch die diagnostische Arbeit erschwert worden. Sie sagt:

«Menschen sind körperliche Wesen. Psychisches Leiden kann häufig nicht in Worte gefasst werden. Es zeigt sich in der Körpersprache, in den Bewegungen und Handlungen.»

Diese wiederum können nur verstanden und beantwortet werden, wenn die Fachperson als «Resonanzkörper» leibhaftig vorhanden ist, so Diez. Für die wirksame Behandlung der meisten psychischen Störungen ist die Qualität der therapeutischen Beziehung das Kernstück. Das zeigen die Ergebnisse der Psychotherapieforschung. Bei der Online-Therapie kommt es indes zu einer weitgehenden «Entkörperlichung und Virtualisierung des Kontaktgeschehens».

Der aktuelle Forschungsstand spricht für den Einsatz von Online-Therapie

Auch sie verweist auf verschiedene Fachpublikationen aus der jüngsten Vergangenheit, welche die Möglichkeiten und Grenzen von Online-Therapien diskutieren. Darunter gebe es solche, die auf psychotherapeutischen Erfahrungen mit Patienten jeder Altersgruppe basieren, die sich aufgrund ihrer Arbeit vorübergehend in anderen Ländern aufhalten, ihre Behandlung im Herkunftsland jedoch weiterführen möchten.

Die leitende Psychologin weiss um die kritischen Stimmen aus dem Fachkreis. Davon hält sie aber nichts:

«Inhaltlich gut begründete unterschiedliche Positionen gibt es nicht wirklich. Es werden vor allem unreflektierte, ideologisch bedingte Haltungen angeführt.»

Der aktuelle Stand der Forschung zeige nämlich, dass je nach Alter, Art und Intensität der Störung und je nach sozialem Umfeld Online-Therapien hilfreich sein können. Das habe sich nicht zuletzt auch in der aktuellen Krise gezeigt.

Zwar erübrigt sich durch die zumeist positiven Erfahrungen mit der Telemedizin nicht die Notwendigkeit eines gesicherten Kommunikationskanals. Doch aufgrund eines potenziellen Risikos, das zudem vermeidbar wäre, gänzlich auf die neumodische Behandlungsmethode zu verzichten, scheint unverhältnismässig.