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Ostschweiz
Unsere medizinischen Einrichtungen sind in den Heilkräutergärten der alten Mönche buchstäblich verwurzelt. Und unsere säkularen Bildungsanstalten sind im Lauf der Jahrhunderte aus dem Geist der Klosterschulen erwachsen. Diese Herkunftsbeziehung ist in der Ostschweiz greifbarer als irgendwo anders.
Einer der vielen Gründe dafür, dass ich mich in der Ostschweiz so heimisch fühle, ist ihre Handschrift. Dahinter steckt nicht etwa die These, dass man einen Ostschweizer oder eine Ostschweizerin an seiner oder ihrer Handschrift erkennt, das wäre absurd. Nein, dahinter steckt die mehr gefühlte als objektiv beweisbare Überzeugung, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem in der St.Galler Stiftsbibliothek aufbewahrten Schatz an alten Handschriften und zumindest einem Teil dessen, was die Ostschweiz als Ostschweiz ausmacht.
Wenn ich durch die St.Galler Stiftsbibliothek wandere, fällt mir an den Handschriften immer zuerst auf, wie unterschiedlich sie im individuellen Ausdruck sind: Ein Schreiber ist mit so viel Eifer bei der Sache, dass er seine Federstriche förmlich in das Pergament hineingräbt, ein anderer so bescheiden zurückhaltend, dass er kaum die Oberfläche des kostbaren Materials berühren zu wollen scheint; ein dritter versieht seine Unterlängen mit temperamentvollen kleinen Schnörkeln; wieder ein anderer lässt die Worte so ineinander übergehen, als wolle er andeuten, dass sie alle Teil ein und desselben grossen Textes sind, dessen Fluss nicht unterbrochen werden darf. So bilden sie eine ähnlich grosse Vielfalt von Persönlichkeiten ab, wie sie noch heute die Ostschweiz prägt – und trotzdem sind alle Handschriften lesbar, alle stehen im Dienst der Kommunikation mit Zeitgenossen ebenso wie über Generationen hinweg.
Vor allem aber bewahren diese Handschriften auch das Wissen, welchen Einfluss die sinnliche Dimension des Schreibens auf das Geschriebene hat. Wenn wir am Computer schreiben, dann hinterlassen wir dabei keine physischen Spuren auf dem Bildschirm, gleich wie sanft oder gewaltsam wir in die Tasten greifen. Zu schreiben bedeutet aber weit mehr als nur Buchstaben zu erzeugen; Schreiben ist eine ritualisierte Form des Denkens, in der sich dessen körperliche Voraussetzungen spiegeln.
Von Hand schreibe ich anders als am Computer, nicht nur, weil das Fehlen von Löschtaste und Ausschneidefunktion eine andere konzeptionelle Ökonomie erfordert, sondern auch, weil das Gefühl von Holz, Metall oder Plastik in der Schreibhand, die harte oder die weiche Feder oder der runde Lauf des Kugelschreibers je anders auf meinen Schreibfluss rückwirken und zudem der ganze Bewegungsablauf meinen Körper völlig anders in ihn einbindet als der Tanz von Fingerspitzen auf dem Keyboard: In der Handschrift bleibt die Lebenswelt gegenwärtig, aus der sie entsteht.
Und es ist noch ein Drittes, was mich diese Handschriften immer wieder mit der Ostschweiz zusammendenken lässt. Es ist selten, dass sich an einem Ort eine so ungebrochene Entwicklungslinie von seiner Entstehungsgeschichte bis in die Gegenwart ziehen lässt wie hier. So sind unsere medizinischen Einrichtungen, wie fern auch immer, in den Heilkräutergärten der alten Mönche buchstäblich verwurzelt. Ähnliches gilt für die gegenwärtige Bildungslandschaft Ostschweiz: Nicht nur die Hochschulen, alle säkularen Bildungsanstalten sind im Lauf der Jahrhunderte aus dem Geist der Klosterschulen erwachsen, die ihnen vorangegangen sind, und diese Herkunftsbeziehung ist in der Ostschweiz greifbarer als irgendwo anders.
Das liegt auch an der internationalen Durchlässigkeit unserer Region, eine Tradition, die zurückreicht bis zu den Wanderungen, die den heiligen Gallus aus Irland bis in die Ostschweiz geführt haben. Vor einigen Jahren durfte ich damit eine Erfahrung machen, die sich mir tief eingeprägt hat. Bei einem kurzen beruflichen Aufenthalt in Dublin nutzte ich die Gelegenheit zu einem Besuch in der Bibliothek des Trinity College, in der einige enge Verwandte der hiesigen Handschriften ausgestellt waren. Oder vielmehr: hätten ausgestellt sein sollen, denn als ich dort ankam, fand ich in den Vitrinen, die ich besonders neugierig aufsuchte, nur Platzhalter mit der Aufschrift: «Currently on loan to the Stiftsbibliothek St.Gallen, Switzerland», und eine freundliche Aufseherin informierte mich, St.Gallen sei «in the Ostschweiz». Ich verliess die Bibliothek – nicht frustriert, sondern irgendwie sehr, sehr stolz.
Ulrike Landfester ist Professorin für Deutsche Sprache und Literatur an der HSG. Sie schreibt diese Kolumne immer montags im Turnus mit Toni Brunner, Samantha Wanjiru und Walter Hugentobler.