Wenn der radikale Psychiatriegegner Edmund Schönenberger vor Gericht auftritt, kann es laut werden. Morgen kämpft sein Verein Psychex vor dem Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen um seine Subventionen.
ST. GALLEN. «Jetzt werden die Fäuste bandagiert», kündigen die Untertitel des Videos an. Es zeigt den St. Galler Anwalt Roger Burges beim Krafttrainig, dann boxt er auf einen Sandsack ein. Am Montag komme es zum Showdown, nicht im Ring, sondern vor dem Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen. «Das Video polarisiert», sagt Burges stolz. Er ist Generalsekretär des Vereins Psychex. Der kämpft vor dem Gericht gegen das Bundesamt für Sozialversicherungen, das seinem Verein die Subventionen entziehen will. Die Verhandlung ist öffentlich – Psychex hofft auf Publikum.
Morgen kämpft Psychex für sich selbst, sonst kämpft der Verein für die Rechte derer, die gegen ihren Willen in psychiatrische Kliniken eingewiesen wurden. Denn wenn jemand nicht sich selbst oder andere gefährdet oder total verwahrlost ist, sei ein solcher Freiheitsentzug unzulässig. Doch oft werde eingesperrt, wer anders sei, sagt Burges. «Jemand kann doch glauben, er sei Napoleon, so lange er keinen Krieg anzettelt.» Bei Psychex kann anrufen, wer so «fürsorgerisch untergebracht» wurde. Bald flattert ein Fax in die Klinik, mit einem Entlassungsgesuch, das der Patient wider Willen nur unterschreiben muss. Oft reiche dies, um eine Entlassung zu erwirken. Ansonsten vermittelt der Verein einen Anwalt.
Genaue Zahlen über die Häufigkeit von Zwangseinweisungen gibt es nicht. Aber eine Studie des Bundesamtes für Gesundheit kam 2009 zum Schluss, dass in der Schweiz jährlich 176 Zwangseinweisungen auf 100 000 Einwohner kommen. Ein sehr hoher Schnitt im europäischen Vergleich. Darüber sorgt sich nicht nur Psychex. «Die Rate der Fürsorgerischen Unterbringungen in der Schweiz ist hoch», sagt Anita Biedermann, Leiterin des Rechtsdienstes der Stiftung Pro Mente Sana. Es gebe aber grosse kantonale Unterschiede. Diese seien auch davon abhängig, wer diese Einweisungen beschliessen kann. In Kantonen, die den Kreis der dazu berechtigten stark einschränken, sind die Raten tiefer als zum Beispiel im Kanton Zürich, wo jeder niedergelassene Arzt dies tun kann. «Viele Fürsorgerische Unterbringungen werden aber schnell aufgelöst, der Patient entlassen», sagt Biedermann, manchmal nach wenigen Stunden oder Tagen. «Aber das ist keine Entschuldigung. Für die Betroffenen ist es ein traumatisches Erlebnis.» Deshalb will Pro Mente Sana, dass die Zahl der Fürsorgerischen Unterbringungen sinkt. Das Problembewusstsein sei vorhanden.
Doch die behutsame Kritik der Pro Mente Sana ist nicht die Sache von Psychex. Für den Gründer Edmund Schönenberger ist die Zwangspsychiatrie ein Herrschaftsinstrument. Er sieht Parallelen zur Inquisition. Wer nicht funktioniere, werde eingesperrt. «So sieht die Umgebung, dass sie funktionieren muss, um nicht eingesperrt zu werden», sagt Schönenberger. Er war 1975 Mitgründer des Zürcher Anwaltskollektivs. Die Mitglieder boten Rechtsberatung an, und gelobten: Nie würden sie einen wirtschaftlich Stärkeren gegen einen wirtschaftlich Schwächeren verteidigen. Bald vertrat Schönenberger erste «Psychiatrieverfolgte». In den Anstalten sah er dumpfe Blicke und sabbernde Münder. «Erst dachte ich, das sei die Geisteskrankheit. Aber bald wurde mir klar, dass die Medikamente diesen Zustand hervorrufen, die Neuroleptika. Ich nenne sie heimtückische Nervengifte.» Er sah die Liegen, auf denen seine Klienten gefesselt worden waren, wie ihnen zwangsweise Medikamente gespritzt wurden. Und er verschrieb sich dem Kampf gegen die Psychiatrie. In den 1980er-Jahren vertrat er Opfer von administrativen Versorgungen und erstritt ihnen vor Gericht Rechte auf Anhörung, Beschwerde, auf rechtlichen Beistand oder Schadenersatz. Für diese Versorgungen, die 1981 abgeschafft wurden, hatte sich Eveline Widmer-Schlumpf im Namen des Bundesrates entschuldigt. Verändert habe sich aber nichts, sagt Schönenberger.
Dabei seien die Kliniken nicht mehr die Verwahrungsanstalten von einst, sagt Thomas Maier, Chefarzt der Akutpsychiatrie der Psychiatrischen Klinik in Wil. «Früher wurden Leute über Monate in den Kliniken behalten. Heute liegt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei 36 Tagen.» Und die Klinik ist geschrumpft. In den 1930er-Jahren hatte sie 1200 Betten, heute noch 200. Von den 1800 Klinikeintritten 2014 waren rund ein Viertel Fürsorgerische Unterbringungen. «Da gibt es schon Situationen, wo man im Nachhinein sagen kann, man habe im Stress überreagiert», sagt Maier. Ein richtiges Mass gebe es aber kaum. «Das ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Toleranz.» Früher habe man viele Leute in Anstalten versorgt. Heute lebten dafür Leute auf der Strasse, denen eine Behandlung gut täte: Unter Obdachlosen gebe es viele psychisch Kranke. Psychex sehe das natürlich nicht so. «Sie vertreten eine antipsychiatrische Haltung», sagt Maier. Eine Haltung, die Schönenberger vor Gericht jeweils mit flammenden Reden vertritt.
Schönenberger lebt seit 21 Jahren als Selbstversorger in Serbien. Für den Prozess vor dem Bundesverwaltungsgericht ist er nach St. Gallen gereist. Dass er bei Prozessen verbal austeilt, gibt er gerne zu. Er schmunzelt, wenn er erzählt, wie oft er von Gerichten deswegen sanktioniert wurde, auch mit Berufsverboten, gegen die er wiederum rechtlich vorging. Vor Gericht können seine Anhänger deshalb morgen ein Spektakel erwarten. «Wir gewinnen sowieso», sagt Roger Burges, wenn auch nicht diesen Fall. Psychex lebe auch von Spenden gut. «Wir kämpfen weiter.»