Das Volksverdikt zur AHV-Reform wird in den Schweizer Medien positiv aufgenommen. Den bürgerlichen Abstimmungssiegern raten sie jetzt aber, nicht zu überborden und Augenmass zu zeigen.
Nach dem Ja zur AHV-Reform ist für den «Tages-Anzeiger» klar: Die Frauen haben einen Vorteil abgegeben. Dies dürfe man nicht vergessen, wenn es das nächste Mal um Gleichstellung gehe. Denn obwohl sich viele Gegnerinnen fragten, weshalb die Frauen trotz vielen ungelösten Gleichstellungsproblemen eine Verschlechterung hinnehmen sollten, stimmte die Mehrheit der Vorlage zu – und dies sei richtig so.
Allerdings seien die Befürworter nun in der Pflicht, zu ihren Worten zu stehen. «Und zwar dort, wo Frauen heute tatsächlich stark benachteiligt sind.» Die Zeitung denkt dabei zuerst an die zweite Säule. Danach müsse der «breitere Kampf um die Gleichstellung mit neuer Energie» weitergehen – etwa bei der Individualbesteuerung, externen Kinderbetreuung oder männlich geprägten Parlamenten und Regierungen.
Auch die CH Media-Zeitungen nehmen die Sieger in die Pflicht. «Dieses Volks-Ja geht mit einem Versprechen einher», titeln sie. Nun gehe es um «gleiche Arbeitszeit für gleiche Löhne und gleiche Renten.» Dies sei wichtig im Hinblick auf die anstehende Reform der Pensionskassenrenten: Das Parlament das Versprechen auf eine Besserstellung jetzt «nicht einfach brechen,»
Für die «Neue Zürcher Zeitung» macht die Abstimmung – nach diesem «überfälligen Schritt» – «Hoffnung», wie sie in ihrem Kommentar schreibt. «Zum ersten Mal überhaupt heisst das Volk eine AHV-Vorlage gut, die keinen Leistungsausbau bringt und mit Abstrichen verbunden ist.» Der Sonntag werde daher als ein guter Tag in die Geschichte der Schweizer Altersvorsorge eingehen: Die Mehrheit beweise, bereit zu sein, «das Sozialwerk den Anforderungen der Gegenwart anzupassen und dafür auch eigene Nachteile in Kauf zu nehmen».
Zwar sei die Erhöhung des Rentenalters kein schöner Schritt – «weder für die Frauen noch für viele Ehemänner». Die höhere Mehrwertsteuer mache sich zudem im Portemonnaie bemerkbar. Umso positiver sei die Zustimmung an der Urne zu werten. Die Zeitung bezeichnet die Niederlage der Linken als «Segen» – «nicht nur für die AHV, sondern auch für die Debattenkultur».
Ratschläge an die Linke gab es dagegen von Watson. «Das Nein-Lager führte eine Kampagne mit fragwürdigen bis unwahren Argumenten, zum Rentenalter 67 und zu angeblichen finanziellen Verlusten der Frauen», kritisiert das Portal: «Mit einer klügeren Kampagne, die sich auf die reale Benachteiligung der Frauen konzentriert hätte, wäre ein Sieg angesichts des knappen Ergebnisses realistisch gewesen.»
Der «Blick» freut sich in seinem Kommentar: «Heureka, die Schweiz ist reformfähig». Das Ja breche zudem den linken Nimbus der Unbesiegbarkeit in Sozialfragen. Trotzdem warnt die Zeitung die Bürgerlichen vor Hochmut, denn sie hätten keinen Grund dazu. «Die Frauen haben die AHV-Revision klar abgelehnt. Jetzt steht die noch wichtigere Reform der zweiten Säule an, und auch da geht es viel um die Frauen.» Stünden die Bürgerlichen nun nicht zu ihrem Versprechen, die Frauen besserzustellen, sei es ein Leichtes, die Vorlage zu bodigen – und das Ja zur AHV-Reform werde zum Pyrrhussieg.
Ennet dem Röstigraben findet die «Tribune de Genève» die Gründe für die Niederlage in der Weltpolitik: «Die Coronapandemie und der Krieg in der Ukraine haben sicherlich eine Rolle gespielt», heisst es in dem Kommentar. «In einem unsicheren wirtschaftlichen Umfeld wollten die Schweizerinnen und Schweizer die Zukunft ihrer AHV sichern.»
Die Argumente der Linken dagegen, dass man die AHV-Kassen später immer noch auffüllen könne, habe dagegen nicht verfangen. «Das war der Mehrheit, die sich um ihre Renten sorgte, zu hypothetisch.»
«Es ist gerecht, dass Frauen genauso viel arbeiten wie Männer», kommentiert «Le Temps»:
«In der AHV muss zwischen den Generationen und den gesellschaftlichen Schichten volle Solidarität herrschen.»
Allerdings verweist die Chefredaktorin der Westschweizer Tageszeitung in ihrem Kommentar auch auf verschiedene Bruchlinien vom Abstimmungssonntag: Nebst dem Röstigraben sieht sie insbesondere auch Unterschiede bei den Gemeindeergebnisse je nach Einkommen.
Zudem hätten sich im Abstimmungskampf über die AHV-Reform einmal mehr Unterschiede zwischen der liberaleren Sicht auf den Staat in der Deutschschweiz und vorherrschende, starke Gewerkschaftsfiguren in der Romandie gezeigt.
Auch die «Wochenzeitung» (WOZ) erkennt im Abstimmungsergebnis verschiedenste «Bruchlinien». Diese seien bei der AHV zwar nicht neu, aber «ein grundsätzliches Problem, gezielt bewirtschaftet von den Bürgerlichen». Denn die wichtigste Sozialversicherung ruht laut WOZ «auf dem Fundament einer alle gesellschaftlichen Gruppen einschliessenden Solidarität».
Und diese ist «nach jahrelangen Auseinandersetzungen inzwischen ziemlich brüchig – Gift für den minimalen Zusammenhalt», wie die WOZ schreibt. Zwar hätten die Bürgerlichen im Abstimmungskampf versprochen, sie würden die Rentenlücken der Frauen in der beruflichen Vorsorge angehen:
«Was ihr Wort wert ist, wird sich in der Dezembersession des Parlaments zeigen.»
Die «Weltwoche» wiederum stellt die grössere Dimension auf parteipolitischer Ebene her: «Wer hat das Sagen in der Schweizer Sozialpolitik?», fragt das Blatt von Chefredaktor und SVP-Nationalrat Roger Köppel rhetorisch. «Seit heute die Bürgerlichen.»
Und weiter schreibt die «Weltwoche» in ihrem Artikel: «Mit dem Ja zur AHV-Reform durchbrechen sie die Veto-Macht der Linken.» Das Signal an die breite, bürgerliche Allianz von FDP, SVP, Mitte und GLP sei: «Wenn sie zusammenstehen, sind Veränderungen in ihrem Sinne möglich.»