Nahrungsergänzungsmittel
Immer noch «nur gesund»?

In seiner Analyse zum Versuch, Nahrungsergänzungsmittel zu Wundermitteln zu machen, schreibt Christoph Bopp: «Es ist nicht ganz einfach, körperliche Zustände als ‹gesünder› als andere zu kennzeichnen. Besonders wenn das Wort ‹natürlich(er)› verboten ist.»

christoph bopp
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Keystone

Vitamin D ist nur das letzte Beispiel. Vielleicht nur Zufall, aber Vitamin C wurde auch schon als Zaubermittel für ewige Jugend und endlose Vitalität gefeiert. Oder verschiedene Joghurtsorten, welche versprachen, unsere Verdauung besser zu regulieren, als sie das jemals selbst konnte. Der profane Name «Nahrungsergänzungsmittel» spricht den Hoffnungen, die auf sie gesetzt werden, Hohn. Sie sollen unser Leben verbessern, unsere Gesundheit – was ist das schon wieder? – widerstandskräftiger machen gegen allerlei Ungemach, das von draussen, aber auch von drinnen droht, und uns vor Mangelerscheinungen beschützen, die uns das moderne Leben als Preis für mehr Komfort, Bequemlichkeit und Wohlstand in Rechnung stellt. Dass unser Bewegungsapparat nicht ideal ist, um den ganzen Tag an einem Bürotisch zu hocken, leuchtet ein. Da ist klar: Da muss (oder sollte) man kompensieren. (Geheimtipp: Mit mehr Eigenbewegung.)

Es hat schleichend angefangen. Am Anfang war das, was später Nahrungsergänzungsmittel genannt wurde, eine «natürliche Ergänzung» der modernen Alltagsnahrung. Ältere Semester werden sich an die Ovo-Büechli erinnern, welche der Doktor Wander und seine AG gratis an die Schulen abgaben. Dort las man Geschichten von bleichen, schwächlichen Kindern, welche natürlich gemobbt wurden, obwohl man das Wort noch gar nicht kannte. Man rätselte, warum. Dann wurde klar, dass es irgendwie unterprivilegierte Familienverhältnisse sein mussten, die für die Mangelerscheinung verantwortlich waren. Denn um eine solche handelte es sich: Nach der ersten Büchse Ovo waren die Mägdlein und Bürschlein rotbackig und putzmunter. Und meistens verzichteten sie grossmütig auf Racheakte und Revanchekutschen gegenüber ihren Peinigern und Beleidigern. Und wenn’s nicht so war, so habe ich es wenigstens in Erinnerung.

Das Verschwinden der Natur aus den Stärkungsmitteln

Das nächste Beispiel war zwar für Erwachsene, aber das Marketing hielt die Linie: Bio-Strath. Autorennfahrer warben dafür. Müde und erschöpft? Bio-Strath hilft. Funktioniert heute noch. Allerdings führen nicht mehr alle Produkte, die ähnliche Wirkungen versprechen, in ihrer Werbung an, dass sie «aus natürlichen Rohstoffen aus der Schweiz» hergestellt worden seien. Warum sie schlappe Männer in vor Adrenalin strotzende Mänätscher verwandeln können, das erklären diese Zaubermittel schon gar nicht mehr. Hauptsache: Es funktioniert.

Auch hier wurde die Natur von der Technik abgelöst

Dass die Natur verschwand, war kein Zufall. Denn die reicht mittlerweile nirgends mehr hin. Der Philosoph Massimo De Carolis schrieb schon 2011 von der «performativen Medizin». Er meinte damit den Ersatz der traditionellen Rolle als «Heilkunst», die einen Patienten von einer Krankheit befreit, durch eine Optimierungsstrategie, die bereits «in Normalfällen eingreift», nicht nur um präventiv möglichen Störungen vorzubeugen, sondern auch um Zustände zu stabilisieren, um damit Möglichkeiten und Leistung des Körpers (inklusive Gehirn) zu optimieren. Im Bereich des Sports redet man unverblümt von Doping. Im zivilen Leben hat sich der Begriff des «Enhancement» eingebürgert.

Der Körper wird als Maschine verstanden, die gewartet und präpariert werden muss, um Höchstleistungen abzuliefern. Lange wurde der Vorgang kaschiert, schliesslich ist eine Schönheitsoperation oder eine Haartransplantation auch nicht durch eine klassische Pathologie indiziert. Oder der Missbrauch der Antidepressiva Prozac/Fluctin: Sie wirken auf den Serotoninspiegel ein und machen auch Nicht-Depressive «glücklicher». Warum nicht Schüchterne damit behandeln? Geht doch. Man muss nur «Schüchternheit» für die Krankenkasse als «social anxiety disorder» bezeichnen.

Man pathologisiert normale Zustände, benennt sie um, vorzugsweise zuerst mit einem Wort mit «*-mangel», wenn man etwas verkaufen will, und optimiert dann diese Zustände. Dies ist eindeutig ein technischer Vorgang. Vergleichbar der Optimierung eines Motors oder eines Computerchips. Es ist nicht ganz einfach, körperliche Zustände als «gesünder» zu kennzeichnen, insbesondere wenn das Wort «natürlich(er)» verboten ist. Denn dann läge die Art der Intervention offen: Die Technik «optimiert» die Natur oder ersetzt ein natürliches Verfahren.

christoph.bopp@azmedien.ch