Das von der chinesischen Zentralregierung installierte Sicherheitsgesetz kann jeden treffen, wenn die Pekinger Regierung das möchte.
Während Hongkongs Staatsführung am Mittwochmorgen mit Champagnergläsern auf das neue nationale Sicherheitsgesetz anstiess, zogen ab dem späten Nachmittag Tausende Hongkonger trotz Demonstrationsgebot auf die Strasse. Es dauerte nur wenige Minuten, bis der erste Bürger der Sonderverwaltungszone wegen des neuen Gesetzes verhaftet wurde: Ein junger Mann hatte eine Flagge vor sich ausgebreitet, welche die Unabhängigkeit Hongkongs forderte. Wenig später setzten die Einsatzkräfte erneut Wasserwerfer und Pfefferspray gegen Aktivisten und Journalisten ein. Seit dem 1. Juli gelten für Hongkongs Zivilgesellschaft fundamental andere Spielregeln: Das von der Pekinger Zentralregierung installierte Sicherheitsgesetz ist die von Kritikern befürchtete Hiobsbotschaft für die weitreichende Autonomie der einst britischen Kronkolonie geworden.
Die 66 Paragrafen stellen künftig vier Vergehen unter Strafe: Massnahmen, die sich für eine Unabhängigkeit Hongkongs aussprechen sowie Aktivitäten, die die Lokal- oder Zentralregierung in Peking untergraben. Zudem werden schwere Gewalttaten gegen Personen und Sachbeschädigungen der Infrastruktur als Terrorismus gewertet. Dabei reicht es auch, einer Organisation anzugehören, die entsprechende Aktionen durchführt. Ebenfalls wird Konspiration mit dem Ausland unter Strafe gestellt. Darunter fallen auch Aufrufe an Regierungen, Sanktionen gegen China zu erheben. Die mögliche Höchststrafe lautet lebenslänglich. «Die Definition von nationaler Sicherheit ist so vage, dass sie es einem unmöglich macht, zu wissen, wann man die Grenzen überschreitet», sagt Nicholas Bequelin, Asien-Pazifik-Leiter von Amnesty International. In anderen Worten: Das Gesetz kann jeden treffen, wenn die Pekinger Regierung dies möchte.
Am Mittwochmorgen stellten sich in Peking zwei Regierungsvertreter den vielen Fragen der Presse. Erst wenige Stunden zuvor war das Dekret in seiner Vollständigkeit veröffentlicht worden. Die Parteikader bemühten sich sehr, während der Pressekonferenz für Beschwichtigung zu sorgen. Dass etwa das Nationale Sicherheitsgesetz nicht rückwirkend für Vergehen in der Vergangenheit gelte, wurde mehrfach betont. «Absolute Freiheit» gäbe es zudem in keinem Land der Welt, sagte Shen Chunyao vom Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses, welcher den Gesetzestext ausgearbeitet hatte. Die Argumentation der Kommunistischen Partei lautet: Keine Regierung auf der Welt lässt sich von separatistischen Bewegungen auf der Nase herumtanzen. Vor allem werde man sich nicht durch Sanktionen westlicher Regierungen einschüchtern lassen – im Gegenteil: Die Zeit, als das Ausland China Handlungsanweisungen geben konnte, sei endgültig vorbei. Überhaupt wolle man nur Recht und Ordnung wiederherstellen, jedoch die weitreichende Autonomie und besonderen Freiheiten Hongkongs unangetastet lassen.
Für das pro-demokratische Lager spielt es im Grunde keine Rolle, wie streng Peking seinen Gesetzestext in der Praxis auslegt und anwendet. Allein die aufgebaute Drohkulisse ist derart massiv, dass sie die politische Freiheit künftig wesentlich eingeengt wird. Vor allem zwei Aspekte sorgen für Angst und Schrecken innerhalb der Protestbewegung: Mit einer Behörde zur «Sicherung der nationalen Sicherheit» erhöht Peking seine Präsenz in der Finanzmetropole. Die Mitglieder der neuen Institution können – trotz bestehender Exekutive in Hongkong – immer dann eingreifen, wenn die chinesische Regierung es für notwendig erachtet. Sie agieren de facto wie Polizisten, unterliegen jedoch nicht Hongkonger Gesetzen. Wenn sie Straftäter festnehmen, können sie diese an Gerichte auf dem chinesischen Festland ausliefern. Wie dort mit unliebsamen Kritikern umgegangen wird, ist hinreichend bekannt: Regelmässig «verschwinden» Dissidenten, Menschenrechtsanwälte oder Bürgerjournalisten. Sie werden in intransparenten Scheinprozessen fernab jeder Öffentlichkeit zu drakonischen Gefängnisstrafen verurteilt.
Zudem kann das Sicherheitsgesetz auf Personen angewendet werden, die nicht in Hongkong leben – also praktisch auf sämtliche Bürger weltweit. Wenn ein Hongkonger etwa im Ausland auf Twitter Sympathien für die Unabhängigkeitsbewegung postet, könnte er bei der Einreise in seine Heimatstadt festgenommen werden. Im Prinzip kann dies auch Korrespondenten treffen, die einen ähnlich gestimmten Leitartikel publizieren.