Die Empfindlichkeit kam mit dem Geld

Die Nachricht: Die Lärmtoleranz in den Städten sinkt. In Zürich beklagten sich 2016 schon 3200 Personen über laute Partys oder den Fernseher des Nachbarn.

Pascal Ritter
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Der Kommentar: Der Glascontainer am Mimosenweg steht vor einer modernen Überbauung gleich hinter dem Milchbuck. Der Hügel trennt die Zürcher Innenstadt von Oerlikon. Hier vermischt sich Urbanität mit Provinz. Die Überbauung trägt einen urbanen Namen: «Bernina City», die Anwohner sind provinziell. Dass Studenten ihre leeren Bierflaschen an Sonn- und Feiertagen oder nach 20 Uhr in den Glascontainer warfen, störte sie. Darum hat die Stadt die Container eingezäunt und mit einem Zeitschloss versehen. Während die Stadt zur 24-Stunden-Gesellschaft wird, schliesst der Glascontainer am Mimosenweg um 19.30 Uhr. Der Weg heisst übrigens wirklich so.
Man könnte den Bewohnern des Mimosenwegs zu ihren geräuschlosen Feiertagen gratulieren, stünde der Zaun vor dem Glascontainer nicht für eine Tendenz, die sich in vielen Städten ausbreitet. Man will im Partyquartier leben, aber möglichst ohne Partys. Man will im kinderfreundlichen Quartier leben, aber möglichst ohne Kindergeschrei. Es herrscht eine neue Empfindlichkeit. Die Empfindlichkeit kam nicht alleine. Sie kam mit dem Geld. Wer 4000 Franken für eine Drei-Zimmer-Wohnung bezahlt, will in Ruhe schlafen – und kann sich den Anwalt leisten. «Der Städter ist ein armes Luder», schrieb Kurt Tucholsky, «Lärm aber darf gemacht werden». Die Bewohner der Zürcher Weststrasse, die vor der Verkehrsberuhigung jahrzehntelang das Donnern der Lastwagen ertrugen, hatten freien Zugang zum Glascontainer. Ihre Vier-Zimmer-Wohnung kostete 1500 Franken. Die Mieten stiegen, die Mieter sind weggezogen. Der Städter ist kein armes Luder mehr. Lärm darf nicht mehr gemacht werden. Nicht am Mimosenweg und nicht an der Weststrasse.
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