Fünfeinhalb Jahre Gefängnis wegen versuchter Tötung: Ein Mann hatte in einer Dietiker Wohnung mit einem zerbrochenen Weinglas zugestochen und seinen Kontrahenten lebensgefährlich verletzt. Was hinter dem Streit steckte, zeigte sich vor dem Bezirksgericht.
Die Meldung, welche die Kantonspolizei Zürich zu Beginn dieses Jahrs verschickt hatte, klang nach einem dieser vielen Allerweltsgewaltdelikte: «Bei einem Streit zwischen zwei Männern ist am Samstagabend, 4. Januar 2020, einer der Kontrahenten schwer verletzt worden. Der Tatverdächtige konnte verhaftet werden.»
Doch hinter der Meldung stecken Weltpolitik, eine Szene wie aus einem billigen Krimi und zwei Einzelschicksale, wie sich am Dienstag am Bezirksgericht Dietikon zeigte.
Der 36-jährige Iraner, der seit jenem Januarabend im Gefängnis sitzt, musste sich wegen versuchter vorsätzlicher Tötung vor Gericht verantworten. Er hatte sich mit einem 27-jährigen Landsmann gestritten. Dabei griff er zu einem Weinglas, zerbrach es an einem Stuhlbein und stach damit zu. Der Jüngere ging zu Boden, aus einer zwölf Zentimeter langen Schnittwunde am Hals stark blutend. Die äussere Drosselvene war geöffnet.
Nur weil die Anwesenden sofort reagiert hätten und kurz darauf im Spital eine Notoperation erfolgt sei, habe der junge Mann überlebt, sagte der Staatsanwalt vor Gericht. Der Blutverlust sei gross gewesen, ergänzte der Anwalt des Opfers. Er sprach von einem Bild des Grauens: «Fast die ganze Wohnung war blutverschmiert.»
Wegen versuchter Tötung verlangte der Staatsanwalt, dass der Iraner zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt wird. Zudem soll er mit einem Landesverweis von zwölf Jahren belegt werden. Der Anwalt des Opfers forderte für seinen Mandanten zusätzlich eine Genugtuung von 66000 Franken.
Den blutig endenden Streit ausgelöst hat wohl ein weit entferntes Ereignis, über das die Iraner an jenem Abend gesprochen hatten. Am Tag zuvor hatten die USA mit einem Drohnenangriff den iranischen General Qasem Soleimani getötet.
Wie der beschuldigte Iraner, der zur kurdischen Minderheit gehört, in der Befragung vor
Gericht sagte, hatten mehrere Personen in einer Dietiker Wohnung Neujahr gefeiert. Dabei tranken sie auch Raki – und von diesem Schnaps floss reichlich. Eine Rückberechnung ergab später, dass der Mann zur Tatzeit irgendwo zwischen 1,3 und 2,2 Promille Alkohol im Blut gehabt haben musste.
Der 27-Jährige habe den Tod des Generals bedauert und geglaubt, dass die anderen in der Wohnung den Drohnenangriff mit Raki feiern würden, sagte der Beschuldigte. Später sei der junge Mann, der von Beginn an bedrückt gewesen sei, mehrmals auf ihn losgegangen. Er selber habe mehrere Faustschläge ins Gesicht kassiert, aber nicht mit Gewalt reagiert, so der Beschuldigte. «Ich sagte ihm, wir alle haben viel getrunken, lass uns morgen darüber sprechen.»
Doch sein Gegenüber habe nicht von ihm ablassen wollen, sondern habe ihn verhöhnt und ihm gedroht, ihn umzubringen. «Deshalb habe ich zum Weinglas gegriffen.» Er habe damit nicht zustechen wollen: «Ich dachte, das schreckt ihn ab.»
Was dann genau passierte, weiss der Mann wegen des Alkohols nicht mehr genau. Er geht davon aus, dass er irgendwie zu Fall gekommen ist und es dabei zur Verletzung kam. Dessen amtlicher Verteidiger plädierte deshalb lediglich auf fahrlässige schwere Körperverletzung und forderte eine bedingte Strafe von zwei Jahren. Die Tat wollte er nicht verharmlosen, er sprach von «schwersten Verletzungen», die sein Mandant dem Opfer zugefügt habe. Aber: «Er hat sich keine Gedanken über mögliche Todesfolgen gemacht.»
Das Gericht sah dies anders: Der Mann habe nicht ein intaktes Glas verwendet, um es beispielsweise als Wurfgeschoss einzusetzen, hielt der vorsitzende Richter in der Urteilsbegründung fest. Der Beschuldigte habe das Glas in einem ersten Schritt zerschlagen und so als Waffe präpariert. «Das macht man, um eine andere Wirkung zu erzielen.» Der Beschuldigte habe damit den Tod des Mannes in Kauf genommen. Er sei zwar vom Jüngeren angegriffen worden, doch sei er nicht an Leib und Leben bedroht gewesen. Er hätte sich auch mit Händen und Füssen wehren können.
Das Gericht verhängte eine Strafe von fünfeinhalb Jahren. Zudem muss der Mann die Schweiz für zehn Jahre verlassen und dem Opfer eine Genugtuung von 25000 Franken zahlen.
Die Folgen des Streits haben dem Opfer zugesetzt: Der junge Mann konnte während Monaten kaum sprechen. Er soll heute noch unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Er hat gemäss seinem Anwalt Schlaf- und Konzentrationsschwierigkeiten und erlebt Flashbacks. «Er hat seine Lebensfreude verloren.»
Und der Beschuldigte, den der Staatsanwalt in der Untersuchung als «stolzen, starken Mann» erlebt hatte, wirkte im Gerichtssaal gebrochen. Er konnte kaum reden, fand nur stotternd Worte. Der 36-Jährige erlitt kürzlich einen Hirnschlag. Der Druck, im Gefängnis zu sein, sei gross, sagte der Verteidiger. Denn sein Mandant hatte sich im Iran politisch engagiert, kam deswegen hinter Gitter, wo er auch gefoltert worden sein soll: «Er hat keine eigenen Zähne mehr, sie wurden ihm ausgeschlagen oder ausgerissen.»