Wenn der Satz «Da gibt es keine zwei Meinungen» fällt, wird unser Kolumnist hellhörig. Denn dann will das Gegenüber nicht diskutieren – oder erträgt es nicht, mit einer anderen Meinung konfrontiert zu werden.
Zu Redensarten, die sich gegenwärtig hoher Beliebtheit erfreuen, gehört der viel gehörte Satz: «Da gibt es keine zwei Meinungen.» Es ist ein Satz, der gerne von Leuten ausgesprochen wird, die sich ihrer Sache ganz sicher sind. Sagt jemand im Lauf einer Debatte, es gäbe keine zwei Meinungen, dann könnte er oder sie auch sagen, die Wahrheitsfindung sei beendet.
So lange wir über Fakten sprechen, ist der Satz berechtigt. Eins und eins gibt zwei, dazu gibt es keine zwei Meinungen. Aber bereits bei der Behauptung, die Erde sei eine Kugel, wäre es falsch, hinterherzuschieben, dazu gäbe es keine zwei Meinungen. Die so genannten Flacherdler, also die Anhängerinnen und Anhänger einer Flat-Earth-Theorie, würden da vehement widersprechen. Die Anzahl Menschen, die glauben, unsere Welt sei nicht eine Kugel, sondern ein flaches Gebilde, nimmt stetig zu. Deswegen gibt es zur Frage der Erdgestalt sehr wohl zwei Meinungen.
Sagt Ihnen also jemand während eines Gesprächs, zu dieser oder jener Frage gäbe es keine zwei Meinungen, dann empfiehlt es sich, hellhörig zu bleiben. Entweder ist ihr Gegenüber einfach praktisch veranlagt und möchte nicht über Dinge diskutieren, die wissenschaftlich erhärtet sind. Oder aber, ihr Gegenüber erträgt es nicht, mit einer anderen Meinung konfrontiert zu werden.
In politischen Fragen zum Beispiel gibt es oft nicht eine und nicht zwei, sondern ganz viele Meinungen. Und gerade wir Schweizerinnen und Schweizer sind es gewohnt, uns unterschiedliche politische Meinungen anzuhören, alle Meinungen gegeneinander abzuwägen und einen Entscheid zu fällen, der hoffentlich möglichst vielen Meinungen Rechnung trägt. Deshalb passt der Satz wie: «Da gibt es keine zwei Meinungen» in politischen Debatten überhaupt nicht. Es ist nicht so, dass man ihn nicht bringen dürfte, aber er löst keine Probleme.
Es gibt freilich eine sprachlich-soziologische Beobachtung, die zu denken gibt: Mir fällt auf, dass Leute, die gerne und oft sagen, da oder dort gäbe es keine zwei Meinungen, selber gerne immer, überall und zu jedem Thema ihre Meinung kundtun, selbst in Augenblicken, in denen ihre Meinung gar nicht gefragt ist. Deshalb dürften sie sich gefreut haben, als neulich in der Online-Ausgabe einer Zeitung folgende Titelzeile zu lesen war: «Ein Jahr Ukraine-Krieg. Was ist deine Meinung?»
Die Titelzeile mag vielen gar nicht aufgefallen sein. Doch jeder Mensch, der sich nur ein kleines bisschen Restsensibilität für das Schicksal anderer Menschen bewahrt hat, jeder Mensch, der nur ein ganz klein wenig Einfühlungsvermögen zu jenen Menschen hat, denen ein grauenvoller Krieg die ganze Existenzgrundlage oder die Existenz selber hinwegfegt, wird mir beipflichten, dass unsere persönliche Meinung in diesem Zusammenhang nicht so relevant ist. Es geht bei diesem fürchterlichen Krieg nicht um meine Meinung, sondern um meine Empathie. Und wüsste ich nicht, dass es zu fast allem mehr als eine Meinung gibt, würde ich behaupten, dazu gäbe es keine zwei Meinungen.